Klimawandel: Kriegt Indien die Kurve?

Indien muss seine Industrie modernisieren und die wachsende Bevölkerung mit Strom versorgen – ohne dabei das globale Klima zu zerstören.

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Von
  • Richard Martin
Inhaltsverzeichnis

Appapur liegt im Amrad-Tiger-Reservat im Bundesstaat Telangana über 1000 Kilometer südlich von Neu-Delhi. Doch die Ansammlung von Hütten und einfachen Betonhäusern, die über fünf Kilometer von der nächsten Straße entfernt liegt, hat etwas, das viele andere Dörfer Indiens nicht haben: Elektrizität. Denn Appapur ist ein "Solardorf", ein Vorzeigeprojekt für das Programm der indischen Regierung, kleine, nicht elektrifizierte Dörfer mit Solarstrom zu versorgen. Hier hängen LED-Lampen in den bescheidenen Hütten. Es gibt Radios und Fernseher. Versorgt werden sie von kleinen Solarstromanlagen mit Bleibatterien als Speicher.

Doch mindestens 0,3 der 1,25 Milliarden Inder leben ohne Strom – wie bis vor einem Jahr auch die Dorfbewohner von Appapur. Und 250 Millionen Einwohner werden nur sporadisch mit Energie aus Indiens altersschwachem Stromnetz versorgt, meist für drei bis vier Stunden pro Tag. Der Strommangel betrifft Stadt und Land gleichermaßen und macht Indiens Bemühungen, den Lebensstandard zu heben und die Industrie des Landes zu modernisieren, oftmals zunichte.

Schon zu seinem Regierungsantritt im Mai 2014 hat Ministerpräsident Narendra Modi den universellen Zugang zu Elektrizität zum wichtigen Projekt seiner Regierung erklärt. Gleichzeitig verpflichtete er sich, internationale Bemühungen im Kampf gegen den Klimawandel voranbringen zu wollen. Dabei versprach er, Indiens installierte Leistung erneuerbarer Energien bis 2022 auf 175 Gigawatt zu erhöhen. 100 Gigawatt davon sollen auf Solarstrom entfallen. Das entspricht etwa der gesamten Stromerzeugungskapazität Deutschlands. Und genau darin liegt Indiens Energiedilemma.

Als weltweit drittgrößter Emittent von Kohlendioxid und anderen Treibhausgasen versucht Indien, was kein Land bisher geschafft hat: den gleichzeitigen Aufbau einer modernen Industrieproduktion und einer Stromversorgung der gesamten Bevölkerung, ohne die Kohlendioxidemissionen dramatisch zu erhöhen. Allein um die steigende Nachfrage zu befriedigen, muss das Land rund 15 Gigawatt jährlich neu installieren – für die nächsten 30 Jahre. Heute stammt der meiste Strom aus veralteten, schmutzigen Kohlekraftwerken.

Würde Indien den gleichen Weg wie die Industrieländer gehen und seine Emissionen proportional zum Lebensstandard erhöhen, hätte das katastrophale Folgen für den gesamten Planeten. Denn eine Entwicklung wie in China würde die Erde nicht noch einmal verkraften. Dort stieg das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von 1980 bis 2010 von 193 auf 4514 US-Dollar jährlich. Gleichzeitig erhöhten sich die Pro-Kopf-Emissionen von 1,49 auf 6 Tonnen pro Jahr. Heute ist China der weltweit größte Erzeuger von Kohlendioxid.

Indiens Pro-Kopf-Emissionen lagen 2012 – dem letzten Jahr, für das Zahlen vorliegen – bei 1,68 Tonnen pro Jahr. Das BIP pro Kopf lag 2014 bei 1631 Dollar. Die indische Bevölkerung wird in den nächsten drei Jahrzehnten voraussichtlich um 400 Millionen Menschen wachsen. Im Jahr 2050 würden demnach 1,7 Milliarden Menschen in Indien leben, rund 20 Prozent der Weltbevölkerung. Folgt Indien dem Beispiel Chinas, würde es zusätzlich acht Milliarden Tonnen Kohlendioxid pro Jahr in die Atmosphäre eintragen – mehr als die gesamten US-Emissionen von 2013.

Ein derartiges Wachstum würde die Bemühungen der restlichen Welt zur Beschränkung von Kohlenstoff-Emissionen ins Leere laufen lassen. Jegliche Chance wäre vertan, die ernsten Folgen des Klimawandels noch abzuwenden. Um das zu erreichen, müssten die globalen Emissionen von derzeit 40 Milliarden Tonnen pro Jahr um 40 bis 70 Prozent sinken – und das bis 2050. Damit Indien dieses Ziel nicht konterkariert, sind radikale Veränderungen bei der Stromerzeugung und -verteilung nötig.

Immerhin stammen schon heute über 17 Prozent des Stroms aus Wasserkraft, davon ein Großteil aus Großstaudämmen im Nordosten, weitere 3,5 Prozent aus Atomkraft und rund zehn Prozent aus Erneuerbaren – zumeist Windparks. Doch fast 70 Prozent der Elektrizität produzieren Kohlekraftwerke. Hinzu kommen überforderte Energieversorger, das schlechte Stromnetz mit extrem hohen Verlusten und ein von staatlichen Subventionen und Eingriffen verzerrter Energiemarkt. Doch es besteht Hoffnung.

Denn einen Vorteil hat Indiens später Start: Das Land nimmt die Modernisierung zu einem Zeitpunkt in Angriff, zu dem die Preise für erneuerbare Energien erstmals konkurrenzfähig mit der Energiegewinnung aus fossilen Brennstoffen sind. Im Dorf Appapur zeigt sich, welche Chancen darin stecken. Es liegt innerhalb eines Tiger-Reservats, aber Probleme machen eher die Leoparden, Schlangen und Wildschweine. Leoparden reißen 10 bis 15 Kühe und Ziegen pro Jahr. Wildschweine zerstören immer wieder die kleinen Nutzgärten der Dorfbewohner. Giftschlangen lauern zusammengerollt im Gras, eine Gefahr für Fußgänger im Dunkeln. Hier hat die Solarbeleuchtung am Abend schon für Besserung gesorgt.

Zu den größten Erfolgen aber haben die kleinen Solaranlagen bei Bildung und Gemeinschaftsleben geführt. Für Kinder gibt es Licht zum abendlichen Lesen und Lernen. Internet und Computer sind zwar nicht verfügbar, dafür stellen aber ein paar Fernsehgeräte eine Verbindung zur Außenwelt her. Unter den Außenleuchten treffen sich die Menschen, um sich zu entspannen oder Probleme zu diskutieren. "Wir können mehr mit unseren Nachbarn kommunizieren", sagt T. Jaya Lakshmi, Enkelin des Dorfchefs Mallaiah Tokala und Direktorin der Ein-Raum-Schule von Appapur. "Keine Angst vor nächtlichen Spaziergängen haben zu müssen, hat unser Gemeinschaftsgefühl gestärkt."

Der Ansatz könnte Tausende indische Dörfer elektrifizieren, die entweder nicht ans Stromnetz angeschlossen sind oder unter der extrem unsicheren Versorgung leiden. Denn das Stromnetz ist marode. 2012 ließ ein Blackout mehr als 600 Millionen Menschen im Dunkeln und demonstrierte die Überalterung der Netze sowie die chaotischen Zustände des Energiesektors, der mit geschätzten 70 Milliarden US-Dollar verschuldet ist. Ein typisches Beispiel für die desolate Situation ist der Bundesstaat Bihar: Von den über 100 Millionen Einwohnern hat weniger als ein Fünftel Zugang zu einer gesicherten Stromversorgung. Der staatliche Energieversorger ist mehr oder weniger bankrott, die subventionierten Stromrechnungen sind niedrig, und die Stromverluste im Netz liegen bei fast 50 Prozent.

Die Reichweite des Netzes hänge vom Zufall ab, sagt Ignacio Pérez-Arriaga, Gastprofessor am US-amerikanischen Massachusetts Institute of Technology (MIT) und Leiter des Reference Electrification Model, das sich auf die Planung von Stromzugängen für Indien und andere Entwicklungsländer konzentriert. "Ich habe ein Dorf ohne Strom besucht", sagt er, "und 100 Meter weiter liegt das nächste Dorf und ist gut versorgt. Es ist verwirrend. Der Anschluss kann nächsten Monat kommen, in den nächsten zehn Jahren oder auch nie."

Für Bewohner dieser Dörfer sind Solaranlagen auf den Dächern oder Microgrids, gespeist von verschiedenen erneuerbaren Energien und Dieselgeneratoren, der einzige Weg, zuverlässig an Strom zu kommen. Eine Reihe indischer und ausländischer Anbieter, einschließlich schnell wachsender Unternehmen wie Visionary Lighting and Energy und Greenlight Planet, verbreiten entsprechende Heimsolaranlagen in ganz Südasien, angetrieben durch staatliche Anreize, sinkende Kosten und eine hohe Nachfrage.

Die Resultate sind bereits deutlich sichtbar. In südindischen Städten wie Bangalore werden auf vielen Dächern bereits Wassertanks mit Solarenergie beheizt. Die Zahl der Bundesstaaten, die bei Neubauten Solaranlagen vorschreiben, vervielfacht sich. In jeder indischen Stadt, ja selbst im staubigsten Weiler am Wegesrand, gibt es Werbung für kleine Batterien und Wechselrichter. Heute sind für Neubauten Solaranlagen vorgeschrieben. Sogar große Unternehmen machen inzwischen mit. BMW kündigte beispielsweise dieses Jahr an, mit einer neuen Solaranlage künftig 20 Prozent des Strombedarfs seiner Fabrik nahe Chennai decken zu wollen. Indian Railways, Betreiber des weltgrößten Eisenbahnnetzes und Indiens größter Arbeitgeber, will in den nächsten fünf Jahren ein Gigawatt Solarkapazität bauen.

Um Indiens Energieprobleme in den nächsten 50 Jahren anzugehen, müssen natürlich auch große Kraftwerke für erneuerbare Energie hinzukommen. Denn mit Microgrids und dezentralen Solaranlagen lassen sich keine Produktionsstandorte des 21. Jahrhunderts aufbauen – erst recht nicht, wenn die Solarstromversorgung schwankt. Aber jedes Microgrid und jede lokale Solaranlage reduziert die Notwendigkeit der Netzerweiterung. Jede auf erneuerbaren Energien basierende Versorgung einer Fabrik oder eines Gebäudes verringert den Druck, Ultra-Mega-Kraftwerke zu bauen.

Dezentrale, maßgeschneiderte Lösungen mögen geradezu lächerlich klein im Verhältnis zu den riesigen Herausforderungen erscheinen. Dennoch ist "der wirkungsvollste Weg, eine große Anzahl von 100- bis 500-Kilowatt-Kraftwerken über das ganze Land verteilt in ländlichen Regionen zu bauen", sagt Anshu Bharadwaj, geschäftsführender Direktor des Center for Study of Science, Technology, and Policy, einem Think Tank in Neu-Delhi. "Die Zentralregierung und ausländische Investoren sind natürlich besonders an Großprojekten interessiert, für die sie lächerlich günstige Finanzierungen bekommen. Aber die echten Innovationen finden in den Dörfern statt."

Ein neues Energie-Ökosystem entsteht. Es wächst auf komplexe und nicht immer vorhersehbare Weise. Letztlich geht es darum, für jeden Bundesstaat, jede Stadt, jedes Dorf die beste Lösung zu finden. Genau darin liegt die große Chance Indiens: Indem es die Kosten eines universellen Stromnetzes vermeidet, kann das Land sich auf die spezifischen Bedürfnisse bestimmter Standorte konzentrieren.

Dieses Bestreben, sich bietende Möglichkeiten zu nutzen und notfalls zu improvisieren, ist in Indien allgegenwärtig, von Neu-Delhis Slums zu den Dörfern Telanganas. Die Fähigkeit der Inder, sich an chaotische und schwierige Bedingungen anzupassen und zu überleben, ist beeindruckend und lässt die Hoffnung zu, dass das Land auch die riesige Herausforderung eines nachhaltigen Wirtschaftswachstums meistern kann. Denn eigentlich haben die Inder keine Wahl. "Indien kann es sich nicht leisten, das amerikanisch-chinesische Modell des 'Wachse jetzt und zahle später' nachzuahmen", sagt Jairam Ramesh, ehemaliger Umweltminister und indischer Chefunterhändler beim Klimagipfel 2010. "Wir können es uns nicht leisten zu sagen: 'Gebt uns 25 Jahre acht Prozent BIP-Wachstum, wir sammeln die Scherben dann später auf.'" (bsc)