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LaLeTu: Leseflüssigkeit im Zusammenspiel mit KI trainieren

Kristina Beer

LaLeTu arbeitet mit viel Ermutigung. Auch vermeintlich kleine Erfolge werden honoriert.

(Bild: Screenshot, LaLeTu)

Die Leseflüssigkeit ist eine Grundfertigkeit, die Grundschüler erlangen sollen. Ein neuer Lautlesetutor mit KI-Spracherkennung soll dies nun unterstützen.

"Leseflüssigkeit ist die Fertigkeit, Texte leise, laut, akkurat, automatisiert, schnell und Sinn gestaltend zu lesen. Sie ermöglicht es Lesenden, die Bedeutung eines Textabschnittes gedanklich nachzuvollziehen und zu verstehen", heißt es in einem Beitrag von 2019 des Mercator Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache [1]. "Nur wer Texte flüssig lesen kann, hat genügend kognitive Kapazitäten im Arbeitsgedächtnis frei für herausforderndere Aufgaben, wie das inhaltliche Verstehen und Interpretieren von Texten." Leseflüssigkeit ist damit eine Grundfertigkeit, die für erfolgreiche Bildungsbiographien benötigt wird.

Damit Kinder eine gute Leseflüssigkeit erreichen können, hat der Schulbuchverlag Ernst Klett zusammen mit dem Start-up Digi Sapiens im Schuljahr 2023/2024 die Plattform "LaLeTu" gestartet. Sie soll die Leseflüssigkeit von Schülerinnen und Schülern analysieren und fördern. Hierfür wird auch Künstliche Intelligenz zur Spracherkennung eingesetzt. An einigen Feinheiten und zukünftigen Funktionen arbeiten die Entwickler im Hintergrund noch, nutzbar ist die Plattform mit ihren Grundfunktionen aber jetzt schon.

Der Plattformname LaLeTu steht für "Lautlesetutor". Konkurrenzprodukte wie etwa Antolin vom Westermann-Verlag [2] wollen ebenfalls die Leseflüssigkeit verbessern, setzen damit aber einen Hauch später an. Mit ihnen soll die Leseflüssigkeit weiter trainiert werden. LaLeTu konzentriert sich stärker auf den Erwerb der Leseflüssigkeit. Heise online konnte die Plattform über mehrere Wochen hinweg testen und auch mit Daniel Iglesias, dem Gründer von Digi-Sapiens, sprechen.

Daniel Iglesias – Gründer von Digi Sapiens

Der Gründer von Digi Sapiens ist der Wirtschaftsinformatiker Daniel Iglesias. Im Gespräch mit heise online erklärte er seine ganz persönliche Motivation, weshalb er eine Spracherkennung zur Vorleseförderung entwickeln wollte. Er sei selbst ein Mensch mit Migrationshintergrund, der sich gefragt habe, weshalb Bildungsaufstieg häufig nicht gelingt. Seine Nachforschungen ergaben, dass es insbesondere der gelungene Spracherwerb ist, der nach dem Lesen lernen auch das Lesen und Verstehen beinhaltete. Iglesias Ehefrau ist überdies Lehrerin. Fragen zum Bildungserfolg kehrten also immer wieder zu ihm zurück: Woran hapert es bei anderen? Was lief bei mir besser? Und: Was kann ich tun?​ Iglesias arbeitete 17 Jahre lang für verschiedene Banken im Frankfurter Umkreis. Zuletzt war er für einige Jahre als Strategieberater bei PricewaterhouseCoopers, dann bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau und im Bereich der Bundes- und Landesförderbanken tätig. Mit Entwicklung einer Vorleseförderung, die sich erst einmal an ehrenamtliche Initiativen richtete, gewann er den hessischen Gründerpreis. Daraufhin wurde der Ernst Klett Verlag auf ihn aufmerksam. Nun kümmert er sich um die Entwicklung von "LaLeTu – Der Lautlesetutor".

Sowohl für die Diagnose als auch die Förderung werden Kinder durch LaLeTu mit verschiedenen Texten konfrontiert. Hier kann der Ernst Klett Verlag aus zahlreichen bereits erschienen Publikationen schöpfen. Im Fall der Diagnose bekommen die Kinder je drei Minuten Zeit, um einen vorgegebenen Text vorzulesen. Die Spracherkennung ermittelt dann, wie viele Wörter pro Minute ein Kind geschafft hat, wie viele Worte hiervon nicht verständlich waren, ob Kinder sich beim Vorlesen wiederholt haben (zum Beispiel, weil sie neu ansetzen mussten) und ob es auch Hinzufügungen gibt – Texte also spontan beim Vorlesen ergänzt wurden. Außerdem ermittelt die Spracherkennung, ob ein Mensch eher monoton, betont oder überbetont vorliest.

Haben Kinder ihre Diagnose-Aufgaben erledigt, können Lehrkräfte die Auswertung des Systems begutachten, sich aber auch die analysierte Sprachdatei anhören.

LaLeTu – Lautlesetutor für die Leseflüssigkeit (0 Bilder) [3]

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Sowohl für die Diagnose als auch die Förderung müssen Lehrkräfte oder auch Schulen Lizenzen beziehungsweise Leseminuten bei Klett erwerben. Pro Analyse oder pro Fördereinheit für ein Kind wird eine Lizenz fällig. Besonders förderbedürftigen Kindern können dementsprechend mehrere Lizenzen oder auch Leseminuten zugeordnet werden.

Die persönlichen Daten der Kinder werden einmal bei LaLeTu eingegeben, woraufhin ein Dokument für die Lehrkräfte erstellt wird, das diese sich ausdrucken sollen. Über dieses Dokument können die von LaLeTu vergebenen Alias-Namen wieder entschlüsselt werden. Die Schülerin "Kuhle Socke" wird zum Beispiel von LaLeTu zu "Biene1536" gemacht.

(Bild: Screenshot, LaLeTu)

Um Kindern das Vorlesen zu erleichtern, können die ausgesuchten Texte in verschiedenen Schriftgrößen und etwa auch mit unterschiedlich farbigen Wortbestandteilen dargestellt werden. Etwa so, dass Silben besser erkannt werden können. Diese Einstellungen nehmen Lehrkräfte direkt bei der Zuweisung der Aufgaben im Hinblick auf die einzelnen Kinder vor. Kinder werden in ihrem Account zu Interessengebieten befragt, damit der Lesestoff zielgenauer ausgewählt werden kann.

Lesen Kinder etwas bei LaLeTu nicht ganz richtig, erhalten sie in ihrem Account keine vernichtende Beurteilung des Vorleseergebnisses, sondern bekommen eine eher gröbere Einschätzung ihrer Leistung auch in Form von Badges/Abzeichen angezeigt. Sie ähneln optisch ein wenig den Auszeichnungen, die etwa bei der Nutzung der Sprachlern-App Duolingo erworben werden können und sind ein Gamification-Element.

Hat ein Kind in der vorgegebenen Lesezeit von drei Minuten sehr viel Text geschafft, wird unter anderem auf diese Leistung Bezug genommen und diese gelobt. Arbeitet das Kind mehrfach mit den Aufgabentypen "Diagnose" oder "Fördern", werden sie auch für ihren generellen Einsatz gelobt, in dem etwa festgestellt wird, dass das Kind mittlerweile schon "500 Worte" vorgelesen hat. Das mag manch Erwachsenen, die das hier flüssig lesen können, lächerlich vorkommen, für Kinder, die in der Regel zur Grundschule gehen und die Probleme beim Vorlesen haben, kann das aber schon ein Meilenstein sein.

Gegenüber heise online machte Iglesias auch klar, dass hier der Fokus der Anwendung liege. LaLeTu richtet sich an die Kinder, die tatsächlich mit der Leseflüssigkeit Schwierigkeiten haben, und nicht die, denen man ohnehin kaum genug Bücher vor die Nase legen kann. Zwar kann mit LaLeTu auch gefördert werden, aber das sogenannte Fordern nach dem Fördern muss aus Sicht des Entwicklers erst einmal nicht über diese Plattform stattfinden.

Zum Vergleich: Bei der Antolin-App von Westermann liegt das Anreizsystem in den Quizfragen, die nach dem Lesen beantwortet werden müssen und den Kindern Punkte bringen. Klassen können Punktvergleiche machen oder es werden pro Klassenstufe zu erreichende Mindestpunktzahlen festgelegt, am Ende winken ebenfalls Lob und Orden. Mitmachen kann ein Kind aber erst, wenn es überhaupt Texte einigermaßen verstehend lesen kann.

Sehr experimentierfreudige Lehrkräfte können schon seit einiger Zeit Funktionen in der Beta ausprobieren. Sie werden dabei vor möglichen Fehlfunktionen gewarnt. Die lesenden Kinder erhalten allerdings keinen Hinweis, dass sie gerade mit einem unausgereiften System arbeiten. Ein bekannter Fehler ist etwa, dass ein richtig gelesener Text fast vollständig als Hinzufügung eingestuft wird. Die Bewertung der Leseleistung fällt dadurch besonders schlecht aus – es wurde quasi kein Wort an der richtigen Stelle erkannt. Entsprechend weniger lobend fällt dann auch die Beurteilung aus, wie heise online beim Testen feststellen konnte.

Ist eine Funktion noch als Beta gekennzeichnet, wird genauer erklärt, was das bedeuten kann. Der "Auto Modus" ist beispielsweise derzeit noch als Beta gekennzeichnet. Mit ihm sollen automatisch Aufgaben zusammengestellt werden.

(Bild: Screenshot, Stand 08.01.2024)

Dieser Zustand soll allerdings nur noch für circa zwei Wochen anhalten, erklärte Iglesias. Dann sollen die Aufgabentypen im Beta-Stadium "in ihrer finalen und weitestgehend fehlerfreien Form zur Verfügung stehen". Man habe sich darauf konzentriert, aus dem Beta-Stadium herauszukommen, statt eine weitere Nachverarbeitung einzubauen, um Fehler in den Beta-Auswertungen zu ermitteln. Das sei eine Frage des Ressourceneinsatzes gewesen.

Befinden sich Funktionen noch in der Beta, werden sie in der Regel kostenlos zur Verfügung gestellt. LaLeTu-intern heißt das, dass das LaLeTu-Minutenbudget hierdurch nicht belastet wird.

Hat die Spracherkennung auch außerhalb der Betas durch inhärente Fehler oder Bugs Kinder schlechter bewertet als nötig, können Lehrkräfte dies über den integrierten Hilfe-Button melden. Über diesen kann ein Screenshot oder ein Video erstellt werden, um Bugs besser eingrenzen zu können. Die falsche Analyse wird damit bisher aber nicht von der übergreifenden Leistungsdiagnose ausgeklammert, sodass diese an Aussagekraft verliert. Hier soll ebenfalls nachgefasst werden.

Wie sich beim Testen der Software durch heise online zeigte, funktioniert die Spracherkennung im regulären Angebot tatsächlich nicht immer völlig fehlerfrei. Das Wort "Käpt'n" wurde bei unseren Tests mehrfach richtig vorgelesen und doch wurde das Wort jedes Mal als falsch vorgelesen gewertet. Wie Entwickler Iglesias erklärt, hat man es hier tatsächlich mit einem Problem zu tun, an dem fortwährend gearbeitet wird. Der Spracherkennung sind nicht alle deutschen Worte geläufig, zudem können Eigennamen von Protagonisten in Geschichten Probleme machen und auch Wortneuschöpfungen von Autorinnen und Autoren überfordern die Erkennung noch. Falsch analysiert werden mitunter aber nicht nur seltenere deutsche Worte, sondern auch das englische Wort "Marshmallow". In einem ansonsten deutschem Text wurde es als falsch vorgelesen angestrichen.

Lehrkräfte müssen dies wissen, bevor sie an den Fähigkeiten der vorlesenden Kinder zweifeln und sollten deshalb nachschauen und nachhören, woran es tatsächlich beim Vorlesen gehapert hat. Das wiederum macht LaLeTu einfach, da Fehlerstellen im Text optisch hervorgehoben werden und diese angezeigten Fehler mit der Audiodatei abgeglichen werden können. Die Löschfrist für die bei den Übungen erstellten und gespeicherten Aufnahmen der Kinder beträgt ein Jahr.

Erklärungsbedürftig bleibt in der aktuellen LaLeTu-Version zudem, ab wann ein vorgelesener Text monoton gelesen oder überbetont wurde. Um Kindern deutlich zu machen, was von ihnen genau in diesem Punkt erwartet wird, fehlt es an abrufbaren Sprachvorbildern. Laut Klett befinden sich diese noch in der Entwicklung. Die Herausforderung sei hier, dass "die vorgelesenen Texte auch wirklich altersgemäß, perfekt und standardisiert vorgelesen werden."

Spannend wird die Fortentwicklung von LaLeTu da, wo es darum geht, inwieweit die Ausprägung eines Bayerischen oder Sächsischen Dialekts die Bewertung der Leseleistung beeinflusst. Ein starker Dialekt könnte ohne spezielles Training dazu führen, dass die Spracherkennung viele Fehler ankreidet. LaLeTu soll Dialekte und sprachliche Färbungen aber bis zu einem gewissen Grad schon jetzt zulassen. Ohne die getroffenen Gegenmaßnahmen könnte der Software sonst schnell auch eine Form der Spracherziehung vorgeworfen werden, die kulturelle Ausprägungen nivelliert.

Daniel Iglesias erklärte gegenüber heise online, dass die Nutzerschaft von LaLeTu momentan so über Deutschland verteilt ist, dass ausreichend Daten zu Dialekten und dialektischen Färbungen erhoben werden können. Dadurch soll die Spracherkennung weiter trainiert werden.

(Bild: LaLeTu, Daniel Iglesias)

Zugleich soll LaLeTu bald auch in der Lage sein, Menschen mit anderen Muttersprachen als Deutsch bei der Aussprache deutscher Wörter gezielt zu unterstützen und neben Deutsch auch weitere Sprachen für die Benutzeroberfläche anbieten – an Englisch wird derzeit gearbeitet, weitere Sprachen sollen im Laufe des Jahres folgen.

Für weiterführende Hilfen können Lehrkräfte schon jetzt bei den Schülerinformationen eintragen, mit welcher Muttersprache ein Kind aufgewachsen ist – diese Eintragungen werden entsprechend anonymisiert im System hinterlegt. Iglesias zufolge ist es für Menschen eine große Herausforderung, sich Akzente abzutrainieren und neue Aussprachemuster anzugewöhnen. Wie wichtig der Einbezug der Muttersprache beim weiteren Sprachenlernen sein könnte, kann etwa eine aktuelle Studie der Universität Padua [5] deutlich machen. Laut der Studie nehmen Kinder schon während der Schwangerschaft Sprachmelodien und Betonungen wahr. Spracherfahrungen würden demnach die funktionelle Organisation des kindlichen Gehirns bereits vor der Geburt prägen.

Weitere Funktionen, die derzeit noch in der Entwicklung sind und noch nicht ausprobiert werden können, sind unter anderem Stilleseübungen, um das Textverständnis zu prüfen. Des Weiteren soll später auch das Prüfen des Hörverständnisses möglich sein, unter anderem wie bei Antolin durch Quizfragen und andere automatisierte Abfragemethoden.

LaLeTu kann momentan via Browser genutzt werden; eine Internetverbindung ist unerlässlich. Für die Nutzung auf dem Tablet wird derzeit eine Android- und iOS-App entwickelt. Theoretisch ist LaLeTu auch via Smartphone nutzbar, davon rät Klett aber ab. Die zu lesenden Texte würden dort nur sehr klein dargestellt.

(kbe [6])


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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.mercator-institut-sprachfoerderung.de/de/themenportal/thema/lesefluessigkeit/
[2] https://www.heise.de/tipps-tricks/Was-ist-Antolin-Die-Lesefoerderung-einfach-erklaert-6136056.html
[3] https://www.heise.de/bilderstrecke/bilderstrecke_9588277.html?back=9501969;back=9501969
[4] https://www.heise.de/bilderstrecke/bilderstrecke_9588277.html?back=9501969;back=9501969
[5] https://www.science.org/doi/10.1126/sciadv.adj3524
[6] mailto:kbe@heise.de