Leben Sie ewig!
Mit zweifelhaften Ratschlägen und Diätpräparaten aus der eigenen Firma bereitet er seine Anhänger darauf vor.
- Steffan Heuer
Man könnte es die Rosskur des 21. Jahrhunderts nennen: 250 Pillen am Tag voller Vitamine, Enzyme, Hormone und Pflanzenextrakte. Sechs intravenöse Infusionen die Woche. Kein Fleisch außer magerem Geflügel. Nicht mehr als 80 Gramm Kohlenhydrate am Tag. Kein Kaffee, kein Zucker, dafür täglich acht Tassen grünen Tee und zehn Gläser gefiltertes, alkaliniertes Wasser mit einem pHWert von 9,5. Ionen-Luftfilter im Büro und im Schlafzimmer sowie jeden Morgen eine Lage antioxidative Hautcreme für Gesicht, Nacken und Hände.
Die Amalgam-Plomben hat er sich entfernen lassen, sein Handy benutzt er nur mit einem speziellen Kopfhörer, der Keime aus dem Gehörgang fernhält. Ray Kurzweil nennt dieses Programm zur Lebensverlängerung den "optimalen" Fahrplan, um seinen 57 Jahre alten Körper in Bestform zu erhalten - bis das eintritt, was er seit den 90er Jahren in inzwischen vier großen Werken als seine Vision der menschlichen Zukunft skizziert hat: das ewige Leben als Verschmelzung von Mensch und Maschine.
Wer noch auf diesem Planeten sein will, wenn biologische und elektronische Intelligenz eins werden, wie Kurzweil fest glaubt, sollte besser jetzt Vorsorge treffen, damit die physische Hardware nicht buchstäblich den Geist aufgibt. Für sein jüngstes Werk hat sich der renommierte Technologe, Erfinder und Visionär aus Massachusetts mit einem zur ganzheitlichen Medizin konvertierten Arzt aus Colorado zusammengetan. Die beiden klopfen – in Anlehnung an einen Science-Fiction-Thriller aus dem Jahr 1966 - schon auf dem Einband große Sprüche. "Die Fantastische Reise. Leben Sie lang genug, um ewig zu leben!", verspricht das gut 450 Seiten starke Buch. Es ist, wie Kurzweils gesamte Karriere, eine Verquickung aus penibel dokumentierter Zustandsbeschreibung des technischen und medizinischen Fortschritts, Gesundheitstipps an der Grenze zwischen gesundem Menschenverstand, solider Schulmedizin und Spökenkiekerei sowie schließlich fantastisch anmutenden Versprechungen einer goldenen Ära unsterblicher Menschen in einer Welt des Überflusses.
"Die Natur ist trotz all ihrer Kreativität auf dramatische Weise suboptimal. Die kommende Revolution auf den Feldern der Nanotechnologie und künstlichen Intelligenz", so verkünden Kurzweil und sein Co-Autor Terry Grossman, "wird es uns erlauben, unsere Körper und Gehirne Molekül für Molekül neu zu designen und neu zu bauen. Die Unsterblichkeit ist in Sichtweite."
Der Mann, der dies verkündet, ist seit meiner letzten Begegnung mit ihm vor fünf Jahren sichtlich gealtert. Ray Kurzweils Haar ist grau und schütterer geworden. Er macht einen erschöpften Eindruck an diesem regnerischen Tag, als er mit einem Pappbecher grünem Tee in das Besprechungszimmer seiner Firma außerhalb Bostons kommt, um seine Vision vom ewigen Leben darzulegen. Im Flur hat der Kurierdienst gerade ein Dutzend Kartons mit Erstdrucken seines nächsten Buchs abgeladen: "The Singularity is Near" ("Die Einheit ist nahe") heißt der 600-Seiten-Wälzer, der im September in den USA erscheinen wird. "Wenn Menschen die Biologie hinter sich lassen", verspricht der Untertitel.