MPEG-Zeitenwende: Operation geglückt, Patient tot?

Seite 2: Mit H.264 begannen die Probleme

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Mit dem für HDTV, auf Blu-ray, in Camcordern und für Streaming verwendeten H.264 (einem der möglichen MPEG-4-Codecs) kamen schließlich unklare Lizenzbedingungen – unter anderem wollte MPEG pro Stream abrechnen. Das war für Lizenznehmer wie -inhaber kompliziert und fehlerträchtig. Ein weiteres Problem: Seit Mitte der 2000er Jahre ist genug Rechenleistung verfügbar, um Bewegtbilder mit Standard-PCs in Echtzeit zu dekodieren und zu enkodieren – das alte Modell mit dedizierter, pro Stück lizenzierbarer Hardware funktionierte nicht mehr.

Beim für DVB-T 2 HD genutzten H.265 setzt sich das Chaos fort: Für die Lizenzierung existieren gleich drei Anlaufstellen – und damit ist noch nicht einmal alles abgedeckt. Dem Vernehmen nach lösen manche asiatischen Anbieter günstiger Set-Top-Boxen das Chaos auf ihre Weise: Sie zahlen einfach gar nicht.

Ebenfalls schlecht für die MPEG: Neue Spieler im Markt wollen mit Inhalten Geld verdienen, nicht mehr mit der Technik, die die Inhalte transportiert. Die maßgeblich von Google initiierte Alliance for Open Media (AOM) etwa entwickelte den offenen und lizenzkostenfreien Video-Codec AV1.

Chiarigliones Ansatz gegen die Probleme: Er wollte bei der ISO oder in einem Pool die Patente bündeln, um Lizenznehmern die Arbeit zu erleichtern – dieses Vorhaben scheiterte allerdings. Chiariglione schlug außerdem vor, die MPEG-Gruppe solle die Konkurrenz mit einem lizenzfreien Codec kontern, der effizienter als AV1 und H.264 ist. Codename: EVC-Base (Essential Video Coding). Für eine noch effizientere Version, das EVC Enhanced Layer, sollen dann Kosten anfallen. Immerhin: Dieser Vorschlag wurde akzeptiert, EVC ist beschlossene Sache.

Unabhängig davon wollte Chiariglione auch MPEG selbst restrukturieren. Die Gruppe befasst sich auch mit Datenreduktion für Standbilder: Zum SC 29 gehört neben MPEG auch JPEG, Chiariglione schlug eine Trennung vor. Auch dieser Änderungswunsch wurde von der ISO abgelehnt. Eine neue Struktur bekommt MPEG innerhalb des SC 29 zwar – aber JPEG bleibt an Bord. In Zukunft soll die Beratungsgruppe 4 MPEG koordinieren.

Neu aufgestellt: Das für MPEG zuständige ISO-Unterkomitee 29 hat neue beratende Gruppen (AG - Advisory Group) bekommen - die nicht umrandeten AGs gab es bisher nicht. AG 4 soll zwischen MPEG und JPEG koordinieren.

(Bild: ISO)

Obwohl ihr Gründer die MPEG nun verlassen und im Frust für tot erklärt hat, geht es für die Gruppe offiziell weiter: Bis zum Jahresende führt Teruhiko Suzuki, Leiter des bislang passiven SC 29, die JPEG- und MPEG-Geschäfte, auf ihn soll 2021 Gary Sullivan folgen. Chiariglione verfolgt mittlerweile andere Ideen: Die Zukunft liegt für ihn in künstlicher Intelligenz, derzeit sucht er Mitstreiter für seine neue Nonprofit-Organisation MPAI ("Moving Picture, Audio and Data Coding by Artificial Intelligence")

Über Chiarigliones MPEG-Rücktritt ist nicht jeder böse: Kollegen, die mit heise online gesprochen haben, lobten zwar Chiarigliones Zielstrebigkeit und Engagement, beklagten aber sein autoritäres Auftreten. Bei Meinungsverschiedenheiten habe Chiariglione stets postuliert, im Zweifelsfall entscheide eben der Convener - also er selbst.

Ob die MPEG bald doch erledigt ist, wird die Zeit zeigen. Konventionelle Audio-Codecs sind ausentwickelt, bei Video dürfte es kaum mehr als zwei weitere Generationen geben. MPEG-Koordinator Jörn Ostermann bleibt aber optimistisch. "MPEG und ISO gewähren Rechtssicherheit – ist ein Format ISO-Standard, ist die US-Monopolkommission außen vor‟, sagte er heise online. Er hält MPEG für sehr lebendig: "Totgesagte leben länger‟

(dahe)