Metamaterialien: Stoffe stellen die Physik auf den Kopf

Seite 2: "Normalerweise gibt es so etwas in der Natur nicht."

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"Wenn sie die wissenschaftlichen Arbeiten zu Metamaterialien lesen, dann finden sie schon in Papern, die vor 20 Jahren veröffentlicht wurden, immer wieder das Wort Anwendung", sagt Martin Wegener, der am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) an Metamaterialien forscht. "Was aber jetzt neu ist, ist die Möglichkeit, immer komplexere Strukturen herzustellen", sagt Wegener und verweist zum Beispiel auf technische Fortschritte bei der Nanoprägelithografie. Bei dieser Technik wird mit Elektronenstrahl-Lithographie ein Mikro-Stempel hergestellt, mit dem man dann in Polymeren große Mengen an Mikrostrukturen herstellen kann.

Wegeners Arbeitsgruppe verwendet 3D-Drucker, die Laser nutzen, um Kunstharze auszuhärten. Damit lassen sich Strukturen in Mikrometer-Größe von beeindruckender Komplexität herstellen. Ihr jüngster Erfolg ist ein akustisches Metamaterial, in dem die einzelnen Grundbestandteile durch lange Brücken miteinander gekoppelt sind. In dem Material laufen Schallwellen rückwärts – zumindest zum Teil: Denn die KIT-Forscher haben ein Material erzeugt, bei dem der Zusammenhang zwischen Wellenlänge und Ausbreitungsgeschwindigkeit der Welle wie ein S geformt ist. "Das geht erst runter und dann wieder hoch. Normalerweise gibt es so etwas in der Natur nicht – außer bei bestimmten Quantensystemen", sagt Wegener. Bei bestimmten Frequenzen spalten sich die Wellen in drei verschiedene Teilwellen auf. "Bei der langsamsten unter ihnen handelt es sich um eine Rückwärtswelle: Der Energiefluss und die Wellenfronten laufen in genau entgegengesetzte Richtungen", sagt Wegener.

Physiker nennen solche Phänomene "Rotonen" – das sind "Quasiteilchen", die sich bisher nur in suprafluiden Flüssigkeiten beobachten ließen. Solche Flüssigkeiten weisen bei extrem tiefen Temperaturen keine innere Reibung mehr auf – sie fließen durch winzigste Kapillaren und auch über Hindernisse hinweg. "Wozu man dieses Material nutzen kann, müssen wir sehen", sagt Wegener. Aber das Experiment zeige deutlich, dass sich mit dem Konzept Materialien realisieren lassen, "deren Eigenschaften über die Grenzen herkömmlicher Materialien hinaus gehen".

Dass akustische Metamaterialien durchaus auch handfest sein können, zeigt Phononic Vibes. Das Spin-off der Polytechnischen Universität Mailand hat in Pilotversuchen mit der Deutschen Bahn die Leistungsfähigkeit seiner Technologie gezeigt. "Aus ökologischen Gründen ist es sicherlich sinnvoll, immer mehr Güterverkehr auf die Schiene zu verlagern. Aber voll beladene Güter- oder auch Hochgeschwindigkeitszüge verursachen Vibrationen mit sehr niedrigen Frequenzen, die besonders Anwohner belasten", sagt Luca D’Alessandro, Mitgründer und Geschäftsführer des Unternehmens.

"Bisher legt man eine Art Matte unter die Gleise, um diese Vibrationen zu dämpfen. Aber dazu muss man die Schienen anheben. Das Verfahren ist teuer und aufwendig, funktioniert aber nicht immer bei allen niedrigen Frequenzen." Ähnliche Probleme gäbe es bei Lärmschutzwänden an Autobahnen oder Flughäfen – auch die sind teuer und funktionieren nur teilweise. Sie vermitteln den Anwohnern zudem den Eindruck, eingesperrt zu sein.

Das Start-up Phononic Vibes hat eine dünne, transparente Schallschutzwand aus Metamaterial entwickelt.

(Bild: Photonic Vibes s.r.l.)

Phononic Vibes hat hochwirksame akustische Metamaterialien entwickelt, die diese Probleme lösen sollen: An Bahngleisen vergrub das Unternehmen seine Metamaterial-Absorber in flachen Gräben entlang der Gleise; für eine vorerst temporäre Installation am Bahnhof des Flughafens Düsseldorf konstruierte es flache und vor allem transparente Wände, die Schall sehr gut absorbieren. Das technische Prinzip ist für beide Anwendungen ähnlich, nur die Frequenzen, bei denen es wirkt, unterscheiden sich: Die Materialien enthalten ein periodisches Gitter mechanischen Resonatoren. Das Zusammenspiel von Trägermaterial und Resonatoren sorgt dafür, dass Schallwellen bestimmter Frequenzen sich in dem Material nicht ausbreiten können – sie werden gefangen.