Meinung: Der Kapitalismus benimmt sich daneben

Viele Ökonomen fordern mittlerweile, der Staat müsse Probleme wie Klimawandel oder soziale Ungleichheit durch gezielte Eingriffe angehen. Doch das bringt neue Probleme mit sich.

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Von
  • David Rotman

David Rotman ist Redakteur der US-Ausgabe von Technology Review.

Die Wirtschaft ist gesund, die Arbeitslosigkeit gering wie lange nicht. Trotzdem nimmt die soziale Ungleichheit zu und erzeugt eine aggressive Stimmung. Dabei sollte die "unsichtbare Hand" des Marktes solche Verwerfungen doch eigentlich ausbügeln. Was läuft hier schief?

Mariana Mazzucato, Wirtschaftsprofessorin an der University of Sussex, hält es für einen Mythos, dass freie Märkte automatisch zu wünschenswerten Ergebnissen führen. Stattdessen müsse der Staat stärker eingreifen, indem er Innovationen in die richtige Richtung lenkt. Regierungen sollten sich nicht darauf beschränken, ein "ebenes Spielfeld" für Unternehmen zu schaffen, sondern das Spielfeld zur Not "auch kippen", um demokratisch legitimierte Ziele zu erreichen – etwa beim Kampf gegen den Klimawandel oder soziales Ungleichgewicht.

TR 2/2017

(Bild: 

Technology Review 2/17

)

Dieser Artikel stammt aus dem Februar-Heft von Technology Review. Weitere Themen der Ausgabe:

Mazzucato findet zunehmend Gehör in der Politik. Die neue britische Ministerpräsidentin Theresa May lud sie bereits zu sich ein. Ein paar Wochen zuvor hatte May ein gemeinsames Ministerium für Wirtschaft, Energie und Industriestrategie gegründet. Mehr als 30 Jahre nachdem Margaret Thatcher jeder Industriepolitik abgeschworen hat, arbeitet nun also eine andere konservative Regierungschefin an deren Revival.

Einige Argumente von Mazzucato sind durchaus umstritten. So behauptet sie, dass viele Innovationen zu Unrecht der Privatwirtschaft angerechnet würden. Sprachtechnologie, GPS und Internet etwa, ohne die Smartphones kaum funktionieren würden, beruhten auf staatlich geförderten Entwicklungen. Mag sein. Aber Nanotechnologie, die Mazzucato ebenfalls als Beispiel nennt, hat unter anderem das IBM-Labor in Zürich vorangebracht.

Und selbst Befürworter gezielter politischer Eingriffe geben zu, dass deren Bilanz gemischt ist. Der Harvard-Ökonom Dani Rodrik etwa hält staatliche Interventionen beim Kampf gegen den Klimawandel zwar prinzipiell für nötig, weil der Markt die sozialen Kosten von CO2-Emissionen nicht ausreichend einbeziehe. Aber die richtige Umsetzung sei schwierig. In Japan, Südkorea und China habe der Ansatz zweifelsohne funktioniert. In anderen Ländern aber sei er zum Spielball der Interessen von Politik und Industrie geworden. Außerdem haben politische Lenkungsversuche zu solch unwirtschaftlichen Projekten wie der Concorde geführt, mit der Großbritannien und Frankreich einst ihrer Luftfahrtindustrie aufhelfen wollten.

Regierungen haben also immer schon Industriepolitik betrieben – auch in Zeiten, als sie verpönt war. Um ihre Interventionen möglichst "unter dem Radar" zu halten, hätten sie ihre eigentlichen Ziele allerdings nicht explizit benannt, klagt Rodrik. Und das hatte Folgen.

Viele negative Beispiele liefert das 787 Milliarden Dollar schwere Konjunkturpaket, das die Obama-Regierung 2009 beschlossen hatte. 60 Milliarden davon waren für Energieprojekte reserviert. Das Solarunternehmen Solyndra etwa erhielt aus dem Paket eine Kreditbürgschaft in Höhe von 535 Millionen Dollar.

Aber gerade der Fall Solyndra zeigt, wie schwer es sein kann, lobenswerte Absichten in die Praxis zu übersetzen. So fehlten unter anderem klare Regeln für eine Förderung. Solyndras Dünnschichtzellen galten zwar einst als preiswertere Alternative zu klassischen Siliziumzellen. Doch in erster Linie sei das kalifornische Start-up aus politischen Gründen für eine Förderung herausgepickt worden – die Obama-Regierung wollte einfach ein Vorzeigeprojekt haben.

Die Kosten der konkurrierenden Siliziumtechnologie sanken dann allerdings stärker als erwartet. Solyndra konnte nicht mithalten und ging 2011 Pleite. Ein weiteres Problem: Das Förderprogramm verfolgte ganz unterschiedliche Ziele – Geld in die Wirtschaft pumpen, Jobs schaffen, mit China auf Augenhöhe bleiben, die Energiewende voranbringen. Viele dieser Ziele widersprechen einander. Um etwa die Wirtschaft anzukurbeln, sollte man das Geld so schnell wie möglich verteilen.

Um nachhaltig zu investieren, sollte man hingegen alle Energieprojekte sorgfältig prüfen – und das braucht Zeit. Und um gebeutelten Regionen zu helfen, wurde auch an Standorten investiert, die nicht erste Wahl waren. So entstanden große Batteriefabriken in Michigan, obwohl es noch nicht annähernd genug Nachfrage gab. Die Folge waren reihenweise Pleiten bei Solar- und Batteriefirmen.

Das Konjunkturpaket war "ein kleines Desaster", meint auch Harvard-Professor Josh Lerner. "Es verstieß gegen alle Regeln, wie man so etwas macht." Trotzdem lehnt Lerner solche Interventionen nicht generell ab: "Man kann argumentieren, dass der Bedarf größer ist denn je." Allerdings sage die Erfahrung, dass es "mehr Fehlschüsse als Treffer gibt". Solche Programme scheiterten oft daran, dass ihre Schöpfer nicht vertraut genug mit den entsprechenden Technologien und Geschäftsmodellen seien. "Der Teufel steckt im Detail", sagt Lerner.

Auch der vermeintlich größte Erfolg des Pakets ist mittlerweile verblasst. Als Nobelpreisträger Steven Chu 2009 Energieminister wurde, schuf er unter anderem das Joint Center for Artificial Photosynthesis und ARPA-E, ein Programm zur Förderung von neuen Energietechnologien im frühen Stadium. Aber in den folgenden Jahren litten die langfristig angelegten Projekte derart unter Budgetkürzungen und politischem Druck, dass sie heute nur noch ein Schatten ihrer selbst sind.

Bei solchen Ergebnissen mag man sich fragen, ob Forschungsvorhaben, die erst in vielen Jahren Früchte tragen, jemals die ständig wechselnden politischen Stimmungen überleben werden. Ökonom Rodrik zufolge hat die Politik aus den Fehlschlägen der vergangenen Jahrzehnte jedoch gelernt. Sie verfolgt heute ganz andere Ansätze: Statt eine bestimmte Branche zu fördern, greife sie heute eher zu übergreifenden Instrumenten wie dem Emissionshandel.

"Es geht darum, Märkte in eine Richtung zu drängen, in die sie sonst nicht gehen würden", sagt Rodrik. So können die Erfahrungen aus dem Konjunkturpaket uns lehren, wie man Industriepolitik robust und effizient macht. (bsc)