Missing Link: Über Digitalisierung des Gesundheitswesens und den Pandemie-Herbst

Seite 3: Entscheider sind nicht die Anwender

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Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat eine einheitliche Digitalisierungsstrategie für die deutschen Gesundheitsämter für den Herbst angekündigt. Kommt die Initiative zu spät?

Definitiv. Im Rahmen des Pakts ÖGD-Digitalisierung werden jetzt Investitionen getätigt, die womöglich sogar konträr zur angekündigten Digitalisierungsstrategie laufen werden. Und das Förderantragswesen zur Verteilung der 400 Millionen Euro sieht ja nicht wirklich die eine einheitliche Digitalisierungsstrategie vor. Fest steht: Die Entscheider sind nicht die Anwender. Das ist im Land Berlin so, aber auch in vielen anderen Bundesländern.

Wenn die Gesundheitsämter weiter nur aufs Melden digital reduziert werden, bräuchten wir ja einfach nur den Status quo halten. Aber das ist keine Digitalisierungsstrategie.

Reichen die bislang zugesagten Finanzmittel?

400 Millionen ist eine Stange Geld, aber das muss bei den Gesundheitsämtern ankommen, die sind die Anwender. Die sind in erster Linie der öffentliche Gesundheitsdienst, nicht die Ministerien. Wenn aber nicht die Anwender über die Mittel entscheiden, wird es schon schwieriger, den Best-Case-Zustand überhaupt zu definieren. Zu spät zum Investieren in Gesundheitsämter ist es nie, es muss nur auch richtig gemacht werden. Und was die laufende Pandemie betrifft: Da greift der Pakt ÖGD-Digitalisierung doch gar nicht.

Den Effekt des Förderprogramms des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) werden wir in den nächsten fünf Jahren messen können. Da werden wir dann sehen, ob nur "nice gadgets" gekauft und Beraterfirmen ordentlich bedient oder wirklich Gesundheitsämter digital und mobil ermächtigt wurden. Für den aktuellen Betrieb haben wir erst einmal nur mehr Aufwand, aber keine konkreten Auswirkungen.

Die Bundesländer forderten Mitte Mai das BMG eindringlich auf, bis spätestens 31. August eine bundeseinheitliche Kernanwendung zum Meldeverfahren für den Infektionsschutz zur Verfügung zu stellen. Der Bund setzt hier seit Längerem vor allem auf Sormas. Macht eine einheitliche Lösung Sinn und ist Sormas dafür das beste Instrument?

Wenn offene Schnittstellenstandards und horizontal und vertikal medienbruchfrei kommuniziert werden kann, macht eine einheitliche Lösung nicht nur Sinn, sondern ist für die Zukunftsfähigkeit zwingend! Die Idee von Sormas ist deswegen ja revolutionär gewesen. Anders als Demis, Survnet und die vielen Privatanbieter ist das Geschäftsmodell von Sormas gemeinnützig, partizipativ und auf Open Source ausgerichtet. Public Code for Public Money!

Sormas ist sicher nicht das beste Werkzeug, aber damit ist der Bruch der Abhängigkeiten von Top Down gekommen. Und für die Gesellschaft ist es nur richtig, wenn der öffentliche Gesundheitsdienst und generell die öffentliche Verwaltung den technischen und datenschutzmäßigen Standard für die APIs setzen. Also transparente Interfaces, die es allen Anbietern am Markt und allen Bürgern erlauben, mit Ihrer Behörde in Kontakt zu treten. Das ist eines der Digitalisierungsziele, auf die wir zuarbeiten.

Das hat nichts mit dem Einschießen auf einzelne Anbieter mit einzelnen Softwarelösungen zu tun. Hier geht es um eine zivilgesellschaftliche Beteiligung. Wir wollen die grundsätzliche Architektur der Anwendungen und Datenbanken neu implementieren: weg von Einzelunternehmen, weg von Abhängigkeiten von einzelnen Geschäftsmodellen, hin zu Anwendergemeinschaften, Plattformen, Partizipation aus der Zivilgesellschaft – vergleichbar zur Entwicklung der Corona-Warn-App. So erreichen wir auch eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz, die immer wichtiger wird.

Nutzt das GANK Sormas? Falls ja, wie läuft es damit? Falls nein, warum nicht?

Ja, im GANK wird Sormas X genutzt und wir waren zufrieden damit. Das heißt nicht, dass wir uns im Paradies wähnten. Es gibt eine Menge an Sormas zu schrauben, ganz sicher. Allerdings: Wir konnten manuelle Aufwendungen reduzieren und eine Beschleunigung der Fallbearbeitung herbeiführen. Der Quantensprung ist jedoch: Die Anwendergemeinde hat jetzt das Wort bekommen, die Helmholtz-Gesellschaft hat mit ihrem Dienstleister das Management und die Änderungen begleitet. Hier ist der wesentliche Wandel passiert. Die Gesundheitsämter sind mit Sormas Beteiligte und Entscheider zugleich! Und genau diese Idee der Gemeinnützigkeit und der Denkarchitektur zu erhalten, ist jetzt so wichtig.

Wie sah es mit Luca aus? Hatten die App und das zugehörige System Potenzial? Könnten sie ein Comeback feiern?

Luca trat vielversprechend auf und wir waren an dem Einsatz stark interessiert. Letztendlich hat die Anwendung die angekündigte Entlastung nicht herbeiführen können. Warum? Ich kann nur mutmaßen, dass hier völlig überhastet ein Auftrag angenommen wurde, dem dieser Dienstleister nicht gewachsen war. Oder dessen Geschäftsmodell war eigentlich ein anderes.

Klar ist doch, dass Gesundheitsdaten im Kontext von Behörden nicht kommerziell zweckentfremdet werden sollten. Mindestens in der Pandemie nicht und auch nicht einfach so. Die Befürchtungen bei Luca sind eingetreten: Der Anbieter hat durch die Pandemie den Zugang in den Gastrosektor mit all den Daten erhalten und hat sich das noch von öffentlicher Hand finanzieren lassen. Insofern glaube ich nicht an ein Comeback, weil Gesundheit wahrscheinlich nie ernsthaft das Geschäftsmodell von Luca war. Ergo: Die Investitionen wären in anderen Bereichen wie dem Ausbau der Gesundheitsamtsschnittstellen deutlich sinnvoller eingesetzt gewesen.

Droht angesichts steigender Infektionszahlen und neuer Varianten spätestens im Herbst wieder ein Chaos schon beim Melden von Corona-Fällen?

Technisch sind wir hohen Inzidenzentwicklungen gewachsen, personell fehlt die Planungssicherheit! Ohne Personal ist auch das beste System wirkungslos. Auch AI würde letztlich nicht helfen. Und das geht auf Kosten der Bürgerfreundlichkeit, des Service, der Bürgerkommunikation und letztlich auf die gesundheitliche Sicherheit.