Missing Link: Die verzweifelte Suche nach der neuen Physik

Seite 3: Was könnte es bedeuten?

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Aber nehmen wir mal an, die neue Messung der Masse des W-Bosons ist richtig. Was würde das bedeuten?

Es würde bedeuten, dass das Standardmodell falsch ist, weil es eine Messung geben würde, die nicht mit den Vorhersagen der Theorie zusammenpasst. Was dann? Nun, dann müssten wir das Standardmodell verbessern. Theoretische Teilchenphysiker haben dazu viele Vorschläge gemacht. Der populärste davon ist seit langem die Supersymmetrie. Sie ist auch eine der möglichen Erklärungen für die neue W-Bosonen-Anomalie, die die Autoren der Studie diskutieren.

Man muss aber wissen, dass Supersymmetrie selbst keine Theorie ist. Sie ist lediglich eine Eigenschaft einer Klasse von Modellen. Und diese Klasse von Modellen ist sehr groß. Alle diese supersymmetrischen Modelle haben gemeinsam, dass sie für jedes Teilchen im Standardmodell ein neues Partnerteilchen einführen. Und dann gibt es meistens noch ein paar neue Teilchen dazu. Kurz gesagt bedeutet Supersymmetrie also: viele neue Teilchen.

Was die Vorhersagen eines supersymmetrischen Modells sind, hängt dann stark von den Massen dieser neuen Teilchen ab, und davon, wie sie zerfallen und interagieren. Weil supersymmetrische Modelle so vielzählig und flexibel sind, kann man mit hoher Wahrscheinlichkeit für jede Anomalie irgendein supersymmetrisches Modell finden, das die Anomalie "erklärt". Leider ist es aber so, dass Modelle, die alles erklären können, eigentlich nichts erklären. In anderen Fachbereichen heißt das Overfitting und wird vermieden, weil man nichts davon lernt. In der Teilchenphysik kann man mit Overfitting Karriere machen.

Deshalb wird die Supersymmetrie mit jeder Anomalie in einem Atemzug erwähnt: weil man damit so ziemlich alles erklären kann, wenn man sich nur genug anstrengt. Könnte die 4,2-Sigma-Abweichung vom Standardmodell im magnetischen Moment des Myons Supersymmetrie sein? Ja. Könnte die B-Meson-Anomalie Supersymmetrie sein? Klar doch. Könnte die neue W-Boson Anomalie Supersymmetrie sein? Aber sicher.

Wissen wir in einem dieser Fälle tatsächlich, dass es Supersymmetrie sein muss? Nein. Es gibt viele andere Modelle, die man sich als "Erklärung" zusammenfummeln kann. Tatsächlich erwähnen die Autoren der neuen Messung der W-Bosonen-Masse auch einige andere mögliche Erklärungen: zusätzliche Skalarfelder, ein zweites Higgs, dunkle Photonen, zusammengesetztes Higgs und so weiter. Es gibt Tausende dieser Modelle in der Teilchenphysik. Seitdem die neue Anomalie veröffentlicht wurde, haben Teilchenphysiker schon ein paar Dutzend weitere gebastelt. Ich verstehe nicht, wieso solch sinnlose mathematische Spielereien nach wie vor veröffentlicht werden. Es ist Zeitverschwendung und der Grund, wieso ich nicht mehr in der Teilchenphysik arbeite. Aber um auf die Frage zurückzukommen: Wenn die Messung der W-Bosonen-Masse richtig ist, wissen wir nicht, was los ist. Und ich glaube nicht, dass irgendeine der derzeit vorgeschlagenen Erklärungen richtig ist.

Es ist durchaus möglich, dass die neuen Daten vom LHC aufzeigen werden, dass das Standardmodell doch nicht richtig ist. Das wäre ein großer Durchbruch und könnte die Teilchenphysik retten. Mit dem Higgs ist das Standardmodell jedoch vollständig und in gutem Zustand, und es gibt keinen Grund, warum es noch mehr neue fundamentale Teilchen im Energiebereich des LHC geben sollte. Wahrscheinlicher ist daher, dass der LHC eine Reihe von Anomalien findet, von denen man nicht genau sagen kann, ob sie nun zufällige Ansammlungen von Messergebnissen sind, oder doch Hinweise auf neue Physik. Wann dann? Nun, dann werden Teilchenphysiker nach Geld für einen größeren Teilchenbeschleuniger fragen. Es ist daher gut, im Hinterkopf zu behalten, dass es immer Anomalien gibt. Sie kommen, und manchmal bleiben sie. Aber meistens gehen sie wieder.

(mho)