Missing Link: Digitale Tatorterfassung bei der Polizei Berlin

Seite 3: INSITU in der Praxis

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Spurensicherung mit dem Smartphone.

(Bild: Polizei Berlin / Joachim Edler )

Also: Bei Ihnen wurde eingebrochen, Sie rufen 110, irgendwann kommt ein Polizist, schaut sich um, stellt ein paar Fragen und … nimmt die Daten mit einem standardisierten Verfahren auf. Die Berliner Polizei zeigt das mit einem kleinen "Tatort", den die INSITU-Gruppe in einem Besprechungsraum aufgebaut hat: Auf dem Tisch liegen Bilder, Zettel und Pläne: ein Haus mit Keller, in dem sich zwei abschließbare Räume befinden. Das Bild einer Gitarre: Der eine Kellerraum ist der Probenraum für eine Band; daneben befindet sich ein Hobbykeller mit einer Modelleisenbahn.

Es wurde eingebrochen, und zwar nicht nur in die Wohnung, sondern auch in den Keller. Genau dies war für die 20 Test-Teams schon ein Testszenario für Änderungen am User Interface (UI) und der User-Experience (UX). Bei der Präsentation in Berlin sind keine Tester vor Ort, wohl aber Menschen aus dem INSITU-Team, und ihr Aufbau zeigt sehr anschaulich, wie die Entwicklung von INSITU funktioniert, und was das Programm mal leisten soll.

Die Kellertür ist heil, aber offen: Wahrscheinlich war der oder waren die Täter erst in der Wohnung, schnappten sich dort den Kellerschlüssel und stiegen dann in den Keller hinab. Einer der Mitarbeiter zeigt auf die Tür zum einen Kellerraum. Sie hat ein paar Macken am Schloss, sie wurde offensichtlich aufgebrochen. Wir zücken das "Dienst-Smartphone".

Zuerst wird das Gebäude "angelegt": In der Vorlage für einen Einbruch bekommt es die Nummer 1. Dann bekommt der Hobbykeller die Nummer 1.2 und der Musikkeller die Nummer 1.3. Als Nächstes fotografieren wir die Beschädigung am Keller – "Werkzeugspur" heißt das – und zur besseren räumlichen Einordnung auch die Tür als Ganzes. Tja, und dann merken wir: Wir haben die Türen verwechselt und die Werkzeugspur steht plötzlich bei der 1.2 (Hobbykeller) und nicht bei der 1.3 (Musikkeller), wo sie eigentlich hingehört.

Das würden wir jetzt gern mit einem Wisch auf dem Display ändern, geht aber leider nicht. "Genau das ist es", sagt Juliane Joswig, "jetzt können Sie die Anforderung schreiben: Ich möchte eine Funktion haben, mit der ich Eingabefehler korrigieren kann. – Übrigens, diese Anforderung haben wir schon." Wir waren also nicht die ersten mit einer falschen Eingabe.

Als Nächstes schauen wir in die Kellerräume hinein. Die Werkzeugspur befindet sich an der Tür zum Musikkeller, und in diesem entdecken wir ein paar eingetrocknete rote Tropfen, die wie Blut aussehen. Wer hat da geblutet? Auch diese Spur muss "angelegt" werden. Wir tippen bei "1.3 Musikkeller" auf ein Pluszeichen, die Software bietet die Nummer "1.3.1" an, wir tippen drauf. Dann wollen wir die vermeintliche "Blutspur" eingeben und kaum haben wir die Buchstaben B, L, U, T eingetippt, bietet die Software "Blutdruckmessgerät" an. Ein bisschen hinunterscrollen, wir finden "blutsuspekte Spur" und tippen darauf. Die Software fragt: "Sicherungsmethode" und wir wählen "Abrieb".

Es gibt noch mehr: Die "richtigen", also polizeilichen Tester fanden auch einen Schraubenzieher auf dem Fußboden und etwas Cannabis, dokumentierten alles, erfuhren dann, dass der Schraubenzieher von einem Bandmitglied vergessen worden war, und mussten den dann wieder aus der Dokumentation löschen. Sie hatten alles fotografiert und Marker gesetzt, etwa beim Foto von der Tür bei den Macken am Türschloss oder beim Foto des Musikkellers beim Fundort des Schraubenziehers; sie musste dann überflüssige Fotos und überflüssige Marker löschen.

"Ziel der Tatortdokumentation ist es, jederzeit Antwort auf die Frage geben zu können: "Was wurde wann, wo, wie, von wem und warum gesichert?", erklärt das BKA. Damit man Spuren weder doppelt erfasst noch verliert, werden die sechs W-Fragen automatisiert von der Software protokolliert. "Der Umfang der Dokumentation ist lückenlos nachvollziehbar", sagt Joswig. Allerdings geht es dabei wohl vor allem um die Gerichtsverwertbarkeit: "Vorher hatte ich erst eine Notiz auf einem Blatt Papier, die dann nachträglich digital ins System kam. Jetzt aber habe ich sofort eine lückenlose Nachvollziehbarkeit: Wer hat wann, wie und warum tatsächlich gehandelt? Das ist im Beweisverfahren nachher durchaus wichtig."

Das System tauglich für alle Polizisten zu machen, ist nicht ganz einfach: Jeder einzelne Polizist hat sein eigenes Vokabular. Juliane Joswig: "Der eine sagt, das ist ein 244er – nach dem Paragraphen im Strafgesetzbuch (Diebstahl mit Waffen; Bandendiebstahl; Wohnungseinbruchdiebstahl) – der nächste sagt Wohnungseinbruch und der übernächste Tageswohnungseinbruch." Was gibt man ein, und wie findet der Kollege später das, was man eingegeben hat?

Und das ist ein Knackpunkt: "Er soll ja das eingeben, was er eingeben möchte und nicht das, was er erst einmal lernen müsste." Sonst wäre das System keine Arbeitserleichterung und würde nicht angenommen.

Man kann auch Sprachnotizen eingeben: "Blutspur tropfenförmig, das dickere Ende Richtung schräg links hinten." Hierfür muss man ein internes Sprachsystem nutzen, eine automatische Spracherkennung gibt es noch nicht, soll aber kommen, und zwar von einem anderen Projekt im Rahmen von P20. Da "die Spracheingabe eine häufig eingesetzte Dokumentationsform ist, um Informationen/Erkenntnisse vor Ort zu erfassen, muss sie somit im ganzheitlichen Ansatz von INSITU auch unterstützt werden", erläutert das BKA. "Im Verbund konnte eine geeignete offline Lösung ohne Abhängigkeiten zu Dritten erarbeitet werden, wobei aber voraussichtlich in der zukünftigen Nutzung ein anderer spezialisierter polizeilicher Service hierfür genutzt werden wird."

Letzten Endes soll INSITU die Arbeit der Polizisten nicht nur erleichtern, sondern auch unterstützen, erklärt Juliane Joswig: "Diese Tatort-App führt ja auch durch einen bestimmten Prozess und der hat eine gewisse Plausibilität." So bilde die App eine Checkliste, damit die Polizisten bereits vor Ort prüfen können, ob sie alles vollständig dokumentiert haben.

P20 ist ein enormes Projekt: Erstens ist es schwierig, die vielen deutschen Polizeiorganisationen unter einen Hut zu bringen. Zweitens gehören dazu viele Einzelprojekte – aktuell befinden sich über 50 in der Abstimmung, Planung oder Umsetzung. Und drittens finden manche Organisationen auch eigene Wege für medienbruchfreies Arbeiten: NRW etwa entwickelt für das Vorgangsbearbeitungssystem (VBS) ViVA drei mobile Apps, mit denen die Erfassung von Strafanzeigen, Vernehmungen und Leichenschauen am mobilen Endgerät durchgeführt werden kann. Niedersachsen bemüht sich um "Digitalisierung" und medienbruchfreie Arbeitsprozesse. Hessen nutzt derzeit vier mobile Dienste für Verkehrsunfallsachbearbeitung, Abfragen aus polizeilichen Informationssystemen, Übersetzungen und Fotos.

Letztlich sollen sie alle INSITU nutzen. Mit den 200 Testern, die auf alle Organisationen verteilt sind, könnte es zumindest für alle passen. Zumindest ist diese Tatortdokumentation sinnvoll.

(vbr)