Missing Link: Generationen in Angst - von Prognosen, vom Überleben und von einer lebenswerten Zukunft

Fürchtet Euch! Auch wenn die Welt besser wurde: Sie wird es nur, wenn wir etwas tun. Und deswegen haben die demonstrierenden Schüler Recht.

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Missing Link: Generationen in Angst - Von Prognosen, vom Überleben und von einer lebenswerten Zukunft
Lesezeit: 10 Min.
Von
  • Clemens Gleich
Inhaltsverzeichnis

Wer sich fragt, warum Schüler aktuell auf die Straße gehen, findet die Antwort am schnellsten an der Quelle. Sprecher der Szene können kaum die Tränen zurückhalten, wenn sie über die drohenden Folgen von "immer weiter so" referieren. Das ist Angst. Die Schüler demonstrieren, weil sie Angst um ihre Zukunft haben.

Spulen wir 30 Jahre zurück, finden wir praktisch dieselbe Angst bei früheren Schülern. Selbst die Themen haben sich kaum geändert: Erderwärmung. Plastikmüll. Artensterben. Leben auf fossilen Pump. Ich hatte davor schon als Schulkind Angst. Doch war die Angst gerechtfertigt?

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Wenn der heute ältere Mensch sich an diese Momente seiner Jugend erinnert, muss ihm auffallen, dass er die Vorhersagen ohne groß erkennbare Probleme überlebt hat. Obwohl der deutsche Wald nach Waldzustandsbericht in einem schlechteren Zustand ist als zu Beginn der Datenerhebung 1984, ist er noch nicht so tot wie dereinst befürchtet. Das Problem war dann doch wieder einmal multikausal. Es lag nicht allein am sauren Regen. Dann liegt der Schluss nahe, dass die Warnungen der Wissenschaft vielleicht alle übertrieben sind.

Ein Beitrag von Clemens Gleich

Clemens Gleich saß vor langer Zeit als c't-Redakteur in einem Büro des Heise-Verlags, bevor ihn einschneidende Erlebnisse dazu brachten, fürderhin in den Sätteln von Motorrädern sein Geld zu verdienen. Doch einmal Nerd, immer Nerd: Als freier Autor schreibt er immer noch über Computerthemen. Und das ganze Drumherum an gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen.

Doch wenn wir Alten uns die Mühe machen, genau zu erinnern: Viele der schlimmsten Prognosen trafen nicht ein, weil sich etwas geändert hat. Die Luftqualität hat sich durch Abgasreinigung massiv verbessert und mit ihr das Thema saurer Regen.

Das Ozonloch entstand durch eine Klasse von Kühl- und Treibmitteln, die ausgesondert, verboten wurden. Es schrumpfte danach tendenziell wieder, und sollte auch noch nicht mental abgehakt werden.

Gekippte Gewässer erholten sich wieder, als flächendeckend moderne Kläranlagen installiert wurden.

Da sich der Aufstieg und Fall von Blei unter anderem im Benzin als Klopfhemmer so genau mit den Kurven von Verbrechen deckte, stellten Forscher die These auf, dass Blei als nachgewiesener Schädiger des Gehirns direkt kausal verantwortlich sein könnte (Lead-crime hypothesis, siehe die gute Zusammenfassung in Mother Jones).

Durch die jahrzehntelange Latenzzeit von Asbesterkrankung haben wir den "Peak Asbestose" wahrscheinlich noch nicht hinter uns, aber kommende Generationen von Bauarbeitern werden länger gesund leben.

(Bild: Paapaya / shutterstock.com)

Und so weiter. Man kann sich natürlich auf den Standpunkt stellen, dass alle je ergriffenen Maßnahmen wirkungslos waren. Man kann auch den Standpunkt vertreten, die Erde sei eine Scheibe. Die Gedanken sind frei. Sie sind jedoch nicht alle gleich nützlich.

Andere jahrzehntealte Warnungen haben wir nicht so problemlos überlebt, wie wir glauben. Wer zu den oben genannten Problemen etwas Ahnung hat, wird mehrmals "ja, aaber" gedacht haben, denn komplett gelöst sind diese Themen nicht, auch wenn ich dort eine Verbesserung erkannte.

Es gibt jedoch auch Dinge, bei denen sich der Problemkomplex verschlimmert hat, während wir uns auf die Schulter klopften, weil wir einen Katalysatorauspuff gekauft hatten. Der Plastikmüll wächst als Problem weiter, auch wenn der Einzelne daheim davon wenig mitbekommen mag, weil Deutschland trotz aller Anstrengungen der Vorväter keinen Zugang zum Pazifik hat.

Obwohl wir eifrig Krombacher soffen und nickend Regenwald-Plädoyers auf der Rückseite von Cornflakes-Packungen studierten, hat Global Forest Watch 2018 einen neuen Rekordwert der jährlich gerodeten Urwaldflächen verkünden müssen, nach Jahrzehnten von "Rettet den Regenwald!".

Auch das: weit weg. Unsere eigenen Urwälder in Europa haben wir größtenteils schon im oder vor dem Mittelalter komplett abgeholzt, sodass in Mitteleuropa heute nur noch 1 Prozent der Landflächen unter Naturschutz stehen müssen. So können wir besser mit dem Finger auf den bösen Südamerikaner zeigen, der den Regenwald vernichtet. Pfui!

Wir können von Glück sagen, dass 70 bis 80 Prozent des Sauerstoffs in der Atmosphäre von Algen im Meer produziert wird. Gleichzeitig sehe ich nicht, dass wir das Phytoplankton, von dem unsere Atemluft abhängt, schützen wollen. Im Gegenteil tun wir viel, um auch die ozeanischen Ökosysteme zu destabilisieren.

Wir sehen Insekten nicht einmal als richtige Tiere an. Folglich interessiert es uns auch kaum, wenn sie allmählich verschwinden. Im tropischen Regenwald existieren so viele Käferarten, dass wir einen großen Teil davon ausrotten, ohne ihre Existenz überhaupt zu registrieren. Wir haben in den letzten Jahrzehnten sehr viele Käferarten überlebt, ja. Der Schluss, dass die Sache egal sei, weil ich noch lebe, dürfte als absurd einleuchten. Warum nun soll es bei der anthropogenen Erderwärmung anders sein?

Mit am meisten aber stört mich das gern unter süffisantem Lächeln vorgetragene: Die Natur ist so groß, da kann der Mensch gar nichts kaputt machen. Als ob noch nie eine menschliche Gesellschaft ihren eigenen Lebensraum vernichtet hätte (Ökozid)! Wir wissen aus der Forschung, dass viele Gesellschaften ausstarben, Hunger litten oder als Zivilisation untergingen, weil sie sich selbst versehentlich ihrer Lebensgrundlagen entledigten.

Das schöne Märchen vom edlen Wilden, der intuitiv alles richtig macht, stimmt schlicht nicht mit der historischen Realität überein. Frühere Menschen versuchten auch, mit ihren Ressourcen nachhaltig umzugehen, aber sie stellten so wie heutige Menschen fest, dass das gar nicht so einfach ist, wenn die Population ansteigt. Manchmal versagten sie. Waldvernichtung. Bodenerosion. Massives Artensterben. Überfischung. Überjagd.

Manchmal kriegten sie gerade noch die Kurve. Einen Anlass zu "gib Last, mach weiter" geben die Forschungen nicht. Sie geben uns die Chance, etwas aus der Vergangenheit zu lernen, wenn wir das wollen. Interessierte Leser könnten in der Geschichte Islands einen guten Einstiegspunkt finden.

(Bild: Here / shutterstock.com)

Wir Alten haben einen unschlagbaren Vorteil gegenüber den jüngeren Generationen: Wir haben lange genug gelebt, dass wir in unserer eigenen Lebenszeit Veränderungen erleben konnten. Kein Gärtner oder Förster wird bestreiten, dass es im letzten halben Jahrhundert tendenziell wärmer geworden ist. Er sieht das nämlich nicht an Einzeltagen mit "wenn es wärmer wird, wieso ist es dann heute so kalt?", sondern am Wachstum um ihn herum, das sich nicht mit Einzeltagen befasst, sondern mit den Schnitten ändert. Die Wachstumsperioden kommen früher. Es wird wärmer. Wir streiten uns nur immer noch gelegentlich darüber, WARUM das so ist.

Forscher haben über Jahrzehnte Daten gesammelt, um Antworten auf diese Frage zu geben. Die Antwort, die großen Konsens in der Forschergemeinde findet, ist genau jene, die demonstrierende Schüler beunruhigt: Nicht nur vom Menschen unabhängige Faktoren, sondern auch die Menschen beeinflussen das Klima. Wie und wie stark das geschieht, darüber gibt es Modelle, die gewissen Fehlerraten unterliegen. Diese Fehlerraten werden ebenfalls häufig aufgegriffen als Argument, beim Thema Erderwärmung gar nichts zu tun.

Das finde ich jedes Mal erstaunlich. Eine statistische Fehlerrate ist ein Schwert mit zwei Schneiden. Es kann sein, dass alles weniger schlimm ist als man auf der Spitze der Wahrscheinlichkeits-Glockenkurve annimmt. Es kann aber ganz genauso sein, dass alles viel schlimmer kommt, und da sind statistische Outlier mit großen, unvorhersehbaren Effekten (Schwarze Schwäne) noch unberücksichtigt. Wer würde sein Kind am Tunnelende auf eine Straße schubsen, weil es ja durchaus sein kann, dass gerade KEIN Auto kommt? Kaum jemand. Wer will sein Kind in eine Welt schubsen, in der wir einfach hübsch so weiter machen? Eine Menge Menschen.

Wir können einfach nicht mit statistischen Daten umgehen, während anekdotische Geschichten uns völlig über Gebühr beeindrucken. Meine Lieblingsanekdote zu Anekdoten: Das unzuverlässigste Auto in meiner Straße ist ein neuer Porsche. Wenn ich aus dieser Geschichte Rückschlüsse auf die statistische KFZ-Realität ziehe, baue ich ein Weltbild aus völlig falschen Vorhersagen auf.

(Bild: NASA images / Shutterstock.com)

Genauso wird ein Weltbild aus Versatzstücken wie "wärmer ist doch ganz schön" und "früher hat uns das Blei auch nicht geschadet" für absurde Zukunftsprognosen sorgen. Deshalb raten alle erfahrenen Menschen eher zu vorsichtig konservativer Planung. Außer bei der Zukunft unseres Lebensraums. Da wird schon alles irgendwie von allein gutgehen. Verbinden Sie Ihre Augen! Treten Sie aufs Gas! Es könnte durchaus alles gutgehen. Der Cousin meiner Frau hat das auch einmal gemacht und wissen Sie was? Er hat danach 30.000 Euro im Lotto gewonnen. Denken Sie da mal drüber nach.

Der Mensch hat normalerweise ein extrem schlechtes Bild der Welt. Die ist gefühlt immer mit Vollgas auf der Autobahn-Überholspur in Richtung Hölle unterwegs. Früher war alles besser. Heute wird alles immer schlimmer. Bill Gates, Steven Pinker und andere schreiben sich die Finger wund, um zu belegen, dass die meisten Dinge besser werden – weil sich etwas ändern lässt, wenn man sich der Situation und der notwendigen Aktionen bewusst wird.

Kaum einer glaubt ihnen. Dieses schlechte Weltbild hat wahrscheinlich evolutionäre Gründe, hat für das Überleben unserer Art gesorgt. Rückgriff auf die Eingangsbeispiele von Verbesserungen: Ohne "Hilfe, der Wald geht zum Teufel!" hätte es weniger Abgasreinigung gegeben. Ohne das griffige Gespenst vom Ozonloch würden wir heute noch flächendeckend die höchst praktischen Fluorchlorkohlenwasserstoffe verwenden. Vielleicht brauchen wir ein bisschen menschlichen Überpessimismus, einen Schuss Existenzangst, damit wir uns bewegen.

Das könnte auch diesmal helfen. Denn ohne die Angst, die diese demonstrierenden Schüler zeigen, tut sich nie irgendetwas. Deshalb schadet es auch gar nicht, wenn die Schüler ansteckende Angst verbreiten, im Gegenteil. Ich hoffe sogar, ich habe mich mit diesem Text ein bisschen daran beteiligt. Denn ich erwarte noch einiges von dieser Zukunft, für die demonstriert wird. Ich will einen lebenswerten Lebensraum. Für mich. Für mein Patenkind Nico. Für meine jungen Kollegen. Für alle Leser. Und für all die nichtmenschlichen Lebewesen, die stets zuerst unter die Räder kommen. Fürchtet euch ruhig ein bisschen. Das hat uns früher auch nicht geschadet. ;-) (jk)