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Missing Link: Indien schafft Generationensprung von Null zu 4G und 5G

Pratima Harigunani, Daniel AJ Sokolov
Eine Kuh mit RFID-Tag im Ohr schaut in die Kamera

(Bild: Pratima Harigunani)

Ungeahnte Fortschritte bei Telekommunikation prägen Indien. 99 Prozent Netzabdeckung, sehr günstige Preise und Handys aus eigener Produktion – selbst iPhones.

The original English version of this article [1] is available as well.

In der Science-Fiction-Serie "Dr. Who" holt der Zeitreisende den niederländischen Maler Vincent van Gogh aus dem 19. Jahrhundert in die Zukunft. Die beiden landen in einem Museum, was Gogh zu Tränen rührt: Er sieht, was aus seinen Gemälden geworden ist. Hätte der Zeitreisende Indien in den 1980er oder frühen 90er Jahren besucht, und einen durchschnittlichen Inder ins Heute mitgenommen, wäre diese Person ebenso überwältigt, schockiert und ekstatisch wie Meester van Gogh es war.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Es hört sich unglaublich an: Damals konnte ein gewöhnlicher Inder nicht einfach einen Telefonhörer abheben und mit jemandem in einer anderen Stadt sprechen, er musste ein Ferngespräch anmelden. Die Anrufer, umgeben von ihrer ganzen Familie, warteten stundenlang, bis das Amt die Verbindung herstellte. Vorausgesetzt, man hatte bereits die Tortur der Installation eines Telefonanschlusses gemeistert: Das erforderte Unmengen Geduld, Bürokratie und Schicksalsglück. Die Anwohner einer Straße konnten sich glücklich schätzen, überhaupt ein Haus mit Festnetzanschluss zu haben. Natürlich nutzten dann auch alle Nachbarn denselben Anschluss, um Anrufe zu tätigen oder entgegenzunehmen. Ein Telefon war so etwas wie ein Lagerfeuer, um das sich die Menschen versammelten.

Und heute? Seit 2021 ist Indien mit über einer Milliarde Teilnehmern der zweitgrößte Telekommunikationsmarkt der Welt. Jeder hat ein schlankes Handy in der Tasche. Damit schauen die Leute Netflix, shoppen im Netz, bestellen Taxis oder Pizza, betreiben "smarte" Landwirtschaft oder sorgen auf andere Weise mittels Handy für ihren Lebensunterhalt. Das ist keineswegs nur Wohlhabenden vorbehalten. Kokosnussverkäufer am Straßenrand haben eine Payment-App auf ihrem Handy, Hausfrauen betreiben Cloud-Küchen, einfache Bauern verwalten ihr Vieh mit RFID-Chips, und viele Krankenhäuser bieten Telemedizin für entfernte Gefilde.

Heute spielt Mobilfunk eine wichtige, förderliche Rolle im Leben der Inder. Das Land hat einen Zeitensprung erlebt. Und so ist es dazu gekommen:

Eine Frau mit Handy steht an einem kleinen Propangasherd

Maya Thakur, die eine "Cloud-Küche" betreibt, erhält eine neue Bestellung am Handy.

(Bild: Pratima Harigunani)

Bis zur bahnbrechenden Marktliberalisierung im Jahr 1991 bestand die indische Telekommunikationsbranche aus den Staatsbetrieben BSNL und MTNL. Sie boten vor allem Festnetzanschlüsse und Telefonzellen. Mit der Liberalisierung kamen eine Vielzahl privater Anbieter auf den Markt. 1997 nahm die Regulierungsbehörde TRAI ihre Arbeit auf, womit die Regierung ihren direkten Einfluss auf Bereiche wie die Tarifgestaltung zurücknahm.

Jetzt war der Markt offen für Telcos wie Reliance Communications, Tata Indicom, Hutch, Vodafone, Airtel, Idea, Loop Mobile und Spice. Die Beschränkungen ausländischer Investitionen in die Branche wurden schrittweise zurückgefahren. Die vielen Anbieter brachten Wettbewerb, der durch die Einführung der Portierung von Mobilfunknummern 2011 noch verstärkt wurde. Erst vor wenigen Jahren, 2016, schockierte und revolutionierte der Netzbetreiber Jio (heute offiziell Reliance Jio Infocomm) mit radikal billigeren Tarifen den Markt. Plötzlich war Datenübertragung die wichtigste Umsatzquelle.

Zugang zum Internet wurde für fast jeden leistbar. Die Digitalisierung erhielt unerwarteten Rückenwind, als Indiens Regierung im November 2016 fast das gesamte indische Bargeld plötzlich für wertlos [3] erklärte. Zu dieser Zeit gewöhnten sich die Inder an mobile Zahlverfahren. Seither hat sich eine starke Inlandsproduktion und Verfügbarkeit von Mobiltelefonen in allen Größen und Preisklassen etabliert. Regierungsprogramme wie "Make-in-India" sowie zur Überbrückung digitaler Gräben kamen zur rechten Zeit. Die Subventionen haben gegriffen. Damit ging die Post ab, was Indien erlaubt hat, in größeren Maßstäben zu denken.

Die zweite große Transformation kam durch eine Welle an Übernahmen: "2018 hat Indien die große Fusion von Idea Cellular mit Vodafone erlebt", erinnert sich Sourav Gupta, Telecom-Analyst bei der Consultingfirma Omdia. "Gebührenfreie Zusatzleistungen von Jio, wie Abos für bestimmte Onlinedienste, haben einen Preiskrieg ausgelöst, vor dem Hintergrund des indischen Oligopols. Reliance Communication (R Com) ist mit Aircel zusammengegangen und hat MTC aufgekauft. Tata Telecom hat ebenfalls eine Fusion mit R Com in Angriff genommen. Im Ergebnis gab es in nur sieben Monaten mehrere Zusammenschlüsse und Übernahmen, die die Zahl der Anbieter reduziert hat." Der Preiskrieg tobte von 2016 bis 2019.

Nur wenige blieben übrig. Heute dominieren private Betreiber mit insgesamt 90 Prozent Marktanteil; den Staatsbetrieben ist nur ein Zehntel geblieben. Auf hundert Inder kommen heute statistisch gesehen 85 Telecom-Anschlüsse: Fast 83 aktive SIM-Karten, und nicht ganz zwei Festnetzanschlüsse. Die Statistik per Ende 2022 zeigt aber nach wie vor ein deutliches Stadt-Land-Gefälle: In den Städten gibt es pro hundert Einwohner 129 aktive SIM-Karten pro hundert Einwohner und mehr als fünf Festnetzleitungen. Am Land sind es hingegen nur 57 SIM-Karten und gerade einmal 0,23 Festnetzanschlüsse [4]. Hinzu kommen 68.000 öffentliche Dorf-Fernsprecher (bei 640.000 Dörfern laut Volkszählung 2011). Der Bruttoumsatz der Branche im vierten Quartal 2022 erreichte umgerechnet 9,9 Milliarden Euro.

Für Mobilfunklizenzen ist Indien in 22 Regionen geteilt. Keiner der Netzbetreiber darf in allen 22 funken. Reist ein Kunde in ein von seinem Anbieter nicht versorgtes Gebiet, fallen keine Gebühren für nationales Datenroaming an, wohl aber Roaminggebühren für Sprache und SMS. Diese sind in den letzten Jahren allerdings auf sehr niedrige Beträge gesunken.

Sowohl die nationale Regierung Indiens als auch Bundesstaaten haben Milliardensubventionen ausgeschüttet, um Produktion und Export von Telekommunikationsausrüstung und andere Elektronik anzukurbeln. Die Förderungen haben gewirkt, speziell als die Volksrepublik China pandemiebedingte Nachschubprobleme hatte. Indiens Smartphone-Exporte haben sich auf 10,9 Milliarden Dollar im Jahr verdoppelt. Apple betreibt jetzt eigene Geschäfte in Indien und möchte dort 2025 ein Viertel aller neuen iPhones aus dem Land beziehen. In gleicher Weise möchte Google seine Pixel-Smartphones in Indien herstellen lassen [5].

Unmittelbar ist für die Menschen vor Ort allerdings wichtiger, dass sie sich Telekommunikation jetzt leisten können. Und das ist zumindest in den Städten gelungen. Eine Statistik für das zweite Quartal 2021 weist aus, dass der Durchschnittspreis für ein ausgehendes Telefonat 4 Paise betrug. 100 Paise sind eine Rupie, und zirka 90 Rupien sind ein Euro. Anders ausgedrückt kann man in Indien für einen Eurocent durchschnittlich 23 Minuten lang mit jemand anderem am Handy plaudern. SMS-Versand kostet demnach im Schnitt 1 Paisa. Eine jüngere Schätzung für Datentarife sieht einen Durchschnittspreis von gut zehn Rupien pro Gigabyte.

Die Daten fließen auch ordentlich. Opensignal hat im April Bandbreiten erhoben. Bei den Downloads bot das Jio-Netz die größten Bandbreiten: Durchschnittlich 22,5 Mbit/s, bei 5G sogar 315 Mbit/s. Beim Upload lagen Vodafone Idea, beim 5G-Upload Airtel voran.

Bäume; dazu mehere Kühe mit RFID-Tags im Ohr, im Hintwrgrund ein Mobilfunkmast

Immer mehr Bauern können sich Mobilfunk und Smartphone leisten; das ermöglicht ihnen, ihr Vieh mit RFID-Tags zu verwalten.

(Bild: Pratima Harigunani)

Das neuerdings bevölkerungsreichste Land der Welt hat noch viele Aufgaben zu lösen. Auf dem Land ist Telekommunikation zwar verfügbar, wird aber noch nicht ubiquitär genutzt. Festnetz gibt es nur in homöopathischen Dosen. Bei Mobilfunk entfallen auf 100 Einwohner ländlicher Gefilde lediglich 57 Mobilfunk-Anschlüsse, obwohl die privaten Mobilfunker Jio und Airtel inzwischen fast 99 Prozent der Wohnsitze zumindest mit 4G erreichen. Die verbleibenden weißen Flecken sind in sehr entlegenen Dörfern und Gebirgen.

Dennoch werden die Netzbetreiber dafür kritisiert, sich zu sehr auf die Städte zu konzentrieren. "Wenn man sich die privaten Telcos anschaut, waren sie ursprünglich vor allem damit beschäftigt, Telekommunikation in die Städte zu bringen", bestätigt Gupta. "Zumal der größte Umsatzanteil dort erwirtschaftet werden kann, speziell aus Datenübertragung." Inzwischen sei die Regierung dabei, diesen digitalen Graben zu überbrücken. Private Anbieter und der staatliche Betreiber BSNL wurden dazu verpflichtet, auch in entlegenen Gebieten Infrastruktur zu errichten.

Vodafone Idea (VI) hat besonders zu kämpfen. Finanzielle Schwierigkeiten begrenzen den 5G-Ausbau, womit sich lediglich zwei Anbieter den 5G-Kuchen aufteilen, Airtel und Jio. Während des erwähnten Preiskampfes hat VI viele Kunden verloren und damit Umsatz eingebüßt. Also konnte VI weniger in sein Netz investieren, was wiederum zu Kundenabwanderung geführt hat. Ein Teufelskreis.

Umstritten ist die Entscheidung der Regierung, bestimmten Anbietern in finanzieller Notlage zu helfen. VI ist so schwer verschuldet, dass es seine Lizenzgebühren nicht zahlen konnte. Die darauf angefallenen Verzugszinsen hat sich die Regierung in Form von Aktien auszahlen lassen, so dass VI nun zu mehr als einem Drittel dem Staat gehört. Das, so Gupta, habe VI vor dem Konkurs gerettet: "Der Schritt war wichtig für die Modernisierung des Netzes und um die Kundenflucht zu stoppen." Und der Erhalt des Netzes unterstützt den Wettbewerb: Ohne VI hätten Airtel und Jio noch mehr Macht im Markt.

Zu weiteren Herausforderung zählen unzuverlässige Stromversorgung, inadäquate (und häufig unterbrochene) Glasfaser-Infrastruktur, unzureichende Netzabdeckung, sowie die wettbewerbsbedingt geringen Margen bei gleichzeitig hohen Ausgaben für Infrastrukturausbau und Lizenzgebühren. Helfen soll ein nationales Glasfaser-Projekt namens BharatNet [6], an dem seit 2012 gearbeitet wird. Ziel ist, alle 250.000 Panchayats (Verwaltungsbezirke) mit zumindest 100 MBit/s an das Internet anzubinden. "Bis Mai 2023 sind 634.782 km Glasfaser verlegt worden", weiß Gupta, "Damit wurden 203.211 Panchayats angebunden."

Mit der Einführung von 5G in mehr und mehr Städten wird sich viel ändern. Der Bandbreitenunterschied zu 4G ist erheblich, wie die Opensignal-Analyse zeigt. Omdia schätzt, dass Ende 2028 893 Millionen Inder 5G nutzen könnten. Ericsson schätzt mit 700 Millionen 5G-Nutzern [7] ein bisschen vorsichtiger, doch auch das wäre noch immer der am schnellsten wachsende 5G-Markt der Welt.

Mit über einer Milliarde Einwohnern ist Indien ein riesiger Markt. "Regierungsprogramme wie die Versteigerung von Frequenznutzungsrechten, die National Digital Communications Policy und die Einführung einheitlicher Telecom-Lizenzen (die Netzbetreibern unter einer einzelnen Lizenz erlauben, sowohl Mobilfunk als auch Festnetz anzubieten, Anmerkung) werden zu Wachstum und besserer Qualität der Dienste führen und Innovation anregen", ist sich Gupta sicher.

Langsam greifen auch Satelliten-Telefone und private LTE-Netze Platz. Würde Dr. Who einen Inder aus dem Jetzt abholen und in die Zukunft bringen, sähe er vielleicht überall Glasfaser, Satelliten und Virtual-Reality-Headsets. Wer vermag schon, es genau vorherzusagen. Indien weiß sicher wieder zu überraschen.

Übersetzung: Daniel AJ Sokolov

(ds [8])


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[1] https://www.heise.de/hintergrund/India-s-Telco-Milieu-It-s-About-Millions-Now-9193536.html
[2] https://www.heise.de/thema/Missing-Link
[3] https://www.heise.de/news/In-die-bargeldlose-Gesellschaft-Indien-erklaert-Grossteil-aller-Rupien-fuer-wertlos-3461836.html
[4] https://www.trai.gov.in/sites/default/files/QPIR_31052023_0.pdf
[5] https://www.heise.de/news/Google-will-Pixel-Smartphones-in-Indien-herstellen-7261383.html
[6] https://usof.gov.in/en/bharatnet-project
[7] https://www.ericsson.com/en/reports-and-papers/mobility-report/reports/june-2023
[8] mailto:ds@heise.de