Missing Link: Indien schafft Generationensprung von Null zu 4G und 5G

Ungeahnte Fortschritte bei Telekommunikation prägen Indien. 99 Prozent Netzabdeckung, sehr günstige Preise und Handys aus eigener Produktion – selbst iPhones.

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Eine Kuh mit RFID-Tag im Ohr schaut in die Kamera

(Bild: Pratima Harigunani)

Lesezeit: 10 Min.
Inhaltsverzeichnis

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In der Science-Fiction-Serie "Dr. Who" holt der Zeitreisende den niederländischen Maler Vincent van Gogh aus dem 19. Jahrhundert in die Zukunft. Die beiden landen in einem Museum, was Gogh zu Tränen rührt: Er sieht, was aus seinen Gemälden geworden ist. Hätte der Zeitreisende Indien in den 1980er oder frühen 90er Jahren besucht, und einen durchschnittlichen Inder ins Heute mitgenommen, wäre diese Person ebenso überwältigt, schockiert und ekstatisch wie Meester van Gogh es war.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Es hört sich unglaublich an: Damals konnte ein gewöhnlicher Inder nicht einfach einen Telefonhörer abheben und mit jemandem in einer anderen Stadt sprechen, er musste ein Ferngespräch anmelden. Die Anrufer, umgeben von ihrer ganzen Familie, warteten stundenlang, bis das Amt die Verbindung herstellte. Vorausgesetzt, man hatte bereits die Tortur der Installation eines Telefonanschlusses gemeistert: Das erforderte Unmengen Geduld, Bürokratie und Schicksalsglück. Die Anwohner einer Straße konnten sich glücklich schätzen, überhaupt ein Haus mit Festnetzanschluss zu haben. Natürlich nutzten dann auch alle Nachbarn denselben Anschluss, um Anrufe zu tätigen oder entgegenzunehmen. Ein Telefon war so etwas wie ein Lagerfeuer, um das sich die Menschen versammelten.

Und heute? Seit 2021 ist Indien mit über einer Milliarde Teilnehmern der zweitgrößte Telekommunikationsmarkt der Welt. Jeder hat ein schlankes Handy in der Tasche. Damit schauen die Leute Netflix, shoppen im Netz, bestellen Taxis oder Pizza, betreiben "smarte" Landwirtschaft oder sorgen auf andere Weise mittels Handy für ihren Lebensunterhalt. Das ist keineswegs nur Wohlhabenden vorbehalten. Kokosnussverkäufer am Straßenrand haben eine Payment-App auf ihrem Handy, Hausfrauen betreiben Cloud-Küchen, einfache Bauern verwalten ihr Vieh mit RFID-Chips, und viele Krankenhäuser bieten Telemedizin für entfernte Gefilde.

Heute spielt Mobilfunk eine wichtige, förderliche Rolle im Leben der Inder. Das Land hat einen Zeitensprung erlebt. Und so ist es dazu gekommen:

Maya Thakur, die eine "Cloud-Küche" betreibt, erhält eine neue Bestellung am Handy.

(Bild: Pratima Harigunani)

Bis zur bahnbrechenden Marktliberalisierung im Jahr 1991 bestand die indische Telekommunikationsbranche aus den Staatsbetrieben BSNL und MTNL. Sie boten vor allem Festnetzanschlüsse und Telefonzellen. Mit der Liberalisierung kamen eine Vielzahl privater Anbieter auf den Markt. 1997 nahm die Regulierungsbehörde TRAI ihre Arbeit auf, womit die Regierung ihren direkten Einfluss auf Bereiche wie die Tarifgestaltung zurücknahm.

Jetzt war der Markt offen für Telcos wie Reliance Communications, Tata Indicom, Hutch, Vodafone, Airtel, Idea, Loop Mobile und Spice. Die Beschränkungen ausländischer Investitionen in die Branche wurden schrittweise zurückgefahren. Die vielen Anbieter brachten Wettbewerb, der durch die Einführung der Portierung von Mobilfunknummern 2011 noch verstärkt wurde. Erst vor wenigen Jahren, 2016, schockierte und revolutionierte der Netzbetreiber Jio (heute offiziell Reliance Jio Infocomm) mit radikal billigeren Tarifen den Markt. Plötzlich war Datenübertragung die wichtigste Umsatzquelle.

Zugang zum Internet wurde für fast jeden leistbar. Die Digitalisierung erhielt unerwarteten Rückenwind, als Indiens Regierung im November 2016 fast das gesamte indische Bargeld plötzlich für wertlos erklärte. Zu dieser Zeit gewöhnten sich die Inder an mobile Zahlverfahren. Seither hat sich eine starke Inlandsproduktion und Verfügbarkeit von Mobiltelefonen in allen Größen und Preisklassen etabliert. Regierungsprogramme wie "Make-in-India" sowie zur Überbrückung digitaler Gräben kamen zur rechten Zeit. Die Subventionen haben gegriffen. Damit ging die Post ab, was Indien erlaubt hat, in größeren Maßstäben zu denken.

Die zweite große Transformation kam durch eine Welle an Übernahmen: "2018 hat Indien die große Fusion von Idea Cellular mit Vodafone erlebt", erinnert sich Sourav Gupta, Telecom-Analyst bei der Consultingfirma Omdia. "Gebührenfreie Zusatzleistungen von Jio, wie Abos für bestimmte Onlinedienste, haben einen Preiskrieg ausgelöst, vor dem Hintergrund des indischen Oligopols. Reliance Communication (R Com) ist mit Aircel zusammengegangen und hat MTC aufgekauft. Tata Telecom hat ebenfalls eine Fusion mit R Com in Angriff genommen. Im Ergebnis gab es in nur sieben Monaten mehrere Zusammenschlüsse und Übernahmen, die die Zahl der Anbieter reduziert hat." Der Preiskrieg tobte von 2016 bis 2019.

Nur wenige blieben übrig. Heute dominieren private Betreiber mit insgesamt 90 Prozent Marktanteil; den Staatsbetrieben ist nur ein Zehntel geblieben. Auf hundert Inder kommen heute statistisch gesehen 85 Telecom-Anschlüsse: Fast 83 aktive SIM-Karten, und nicht ganz zwei Festnetzanschlüsse. Die Statistik per Ende 2022 zeigt aber nach wie vor ein deutliches Stadt-Land-Gefälle: In den Städten gibt es pro hundert Einwohner 129 aktive SIM-Karten pro hundert Einwohner und mehr als fünf Festnetzleitungen. Am Land sind es hingegen nur 57 SIM-Karten und gerade einmal 0,23 Festnetzanschlüsse. Hinzu kommen 68.000 öffentliche Dorf-Fernsprecher (bei 640.000 Dörfern laut Volkszählung 2011). Der Bruttoumsatz der Branche im vierten Quartal 2022 erreichte umgerechnet 9,9 Milliarden Euro.

Für Mobilfunklizenzen ist Indien in 22 Regionen geteilt. Keiner der Netzbetreiber darf in allen 22 funken. Reist ein Kunde in ein von seinem Anbieter nicht versorgtes Gebiet, fallen keine Gebühren für nationales Datenroaming an, wohl aber Roaminggebühren für Sprache und SMS. Diese sind in den letzten Jahren allerdings auf sehr niedrige Beträge gesunken.

Sowohl die nationale Regierung Indiens als auch Bundesstaaten haben Milliardensubventionen ausgeschüttet, um Produktion und Export von Telekommunikationsausrüstung und andere Elektronik anzukurbeln. Die Förderungen haben gewirkt, speziell als die Volksrepublik China pandemiebedingte Nachschubprobleme hatte. Indiens Smartphone-Exporte haben sich auf 10,9 Milliarden Dollar im Jahr verdoppelt. Apple betreibt jetzt eigene Geschäfte in Indien und möchte dort 2025 ein Viertel aller neuen iPhones aus dem Land beziehen. In gleicher Weise möchte Google seine Pixel-Smartphones in Indien herstellen lassen.

Unmittelbar ist für die Menschen vor Ort allerdings wichtiger, dass sie sich Telekommunikation jetzt leisten können. Und das ist zumindest in den Städten gelungen. Eine Statistik für das zweite Quartal 2021 weist aus, dass der Durchschnittspreis für ein ausgehendes Telefonat 4 Paise betrug. 100 Paise sind eine Rupie, und zirka 90 Rupien sind ein Euro. Anders ausgedrückt kann man in Indien für einen Eurocent durchschnittlich 23 Minuten lang mit jemand anderem am Handy plaudern. SMS-Versand kostet demnach im Schnitt 1 Paisa. Eine jüngere Schätzung für Datentarife sieht einen Durchschnittspreis von gut zehn Rupien pro Gigabyte.

Die Daten fließen auch ordentlich. Opensignal hat im April Bandbreiten erhoben. Bei den Downloads bot das Jio-Netz die größten Bandbreiten: Durchschnittlich 22,5 Mbit/s, bei 5G sogar 315 Mbit/s. Beim Upload lagen Vodafone Idea, beim 5G-Upload Airtel voran.