Justiz am Limit – mit KI gegen Personalmangel und Verfahrensberge
Bleibt die Gerechtigkeit auf der Strecke? Die Justiz ächzt unter Masse und Umfang der Verfahren. KI soll helfen. Von der Umsetzung einer Vision in die Praxis.
Die Justiz ächzt unter der Last unbearbeiteter Verfahren. Am Jahresende 2023 waren nach Auswertungen des Statistischen Bundesamts bundesweit noch 923.452 Verfahren offen. Was also tun, wenn die Rechtsprechung vergraben unter Aktenbergen auf dem Weg zur Gerechtigkeit liegenbleibt, weil Behörden überlastet sind? "Wir werden uns damit auseinandersetzen müssen, ob wir bei bestimmten Verfahren tatsächlich menschliche Intelligenz brauchen", sagte die Berliner Generalstaatsanwältin Margarete Koppers Anfang des Jahres zur dpa. Bund und Länder arbeiten seit Längerem an einem Plan, um Abläufe durch den Einsatz von KI innerhalb der Justiz effizienter zu gestalten.
"Recht im Umbruch – KI als Gamechanger?", fragt sich da nicht nur der EDV-Gerichtstag, dessen Veranstaltung im September unter diesem Titel stattfand. Tatsächlich ist KI in der Justiz auf dem Vormarsch. Wir werfen einen Blick auf die Umsetzung der "KI-Version" in die Praxis.
Ohne Digitalisierung geht es nicht
Obwohl die Staatsanwaltschaften in Deutschland im Jahr 2023 mehr als 5,5 Millionen Verfahren abgeschlossen haben, wächst der Berg an unerledigten Verfahren weiter – allein von 2021 bis 2023 um 25 Prozent. Justitia erstickt in der Masse, die Schriftsätze werden länger, Akten dicker und Regale voller. Je mehr Staub sich auf den einzelnen Fall niederlegt, desto besser für den oder die Täter. Statt anzuklagen, stellt die Justiz mehr und mehr Verfahren ein. "Die Anklagequote ist bundesweit gesunken, weil wir die Ressourcen nicht mehr aufbringen, alle Straftaten gleichermaßen zu verfolgen", stellt Generalstaatsanwältin Koppers fest. Und je länger ein Verfahren dauert, desto mehr Strafrabatt gibt es später bei einer Verurteilung vor Gericht, da Verfahrensverzögerungen laut BGH bei der Strafzumessung berücksichtigt werden müssen. Der Staat kann sich bei einer überlangen Verfahrensdauer nicht mit Umständen rechtfertigen, die innerhalb seines Verantwortungsbereichs liegen. Eine angespannte Personalsituation und daraus folgende Überlastung zählen nicht.
Nicht nur die Zahl von Massenverfahren und Umfangverfahren wächst. Auch das anzuwendende Recht wird immer umfangreicher; Gesetzestexte werden durch Verweisketten komplizierter. Wer soll das alles noch in der Kürze der Zeit lesen, fragt sich da so mancher Richter. Abhilfe können hier KI-gestützte Richterassistenz-Systeme schaffen. "1.000 Seiten in 1 Sekunde sichten" – das kriegt ein menschlicher Richter nicht hin, aber mit Hilfe von "Codefy" werde der Anwender solch "komplexe Verfahren beherrschen" und "nichts mehr übersehen" verspricht der Hersteller.
Eine Studie des Legal Tech Verbands sieht in Deutschland einen "großen heterogenen und wachsenden Markt". Nicht nur Rechtsanwälte und Kanzleien haben den Nutzen von "Legal Tech" entdeckt, auch der Staat möchte "Justice Tech" einsetzen. Wer einmal vor Gericht gesehen hat, wie sich Richter und Staatsanwälte auf der Suche nach einer Aussage in einem Schriftstück durch eine Umzugskiste voller Akten wühlen und der Rechtsanwalt währenddessen seelenruhig seinen Laptop aufklappt, um mal eben in Sekundenschnelle das Gesuchte zu finden, kann den Wunsch nach einer technologischen "Waffengleichheit" nachvollziehen.
Abseits der anwachsenden Verfahrenshalden kämpft die Justiz mit einem weiteren Problem: dem Fachkräftemangel. Bis 2030 werden über 25 Prozent aller Richter in den Ruhestand gehen, stellte eine Studie über die Zukunft der Digitalen Justiz im Jahr 2022 fest und bescheinigte Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern bei der Digitalisierung der Justiz 10 bis 15 Jahre hinterherzuhinken. Andere Länder haben "wohl bedeutend früher strategische Weichenstellungen und Anstrengungen für eine Digitalisierung der Justiz getroffen" meint der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages ein Jahr später in seinem Sachstandsbericht zur Digitalisierung der Justiz.
Justice Tech: Von der Umsetzung einer Vision
Nicht nur die CDU will KI umfassend in Justiz und Verwaltung verankern. Auch die Bundesregierung will die Justiz durch Digitalisierung und den Einsatz von KI effizienter und moderner machen. Bis zu 200 Millionen Euro stellt der Bund fĂĽr die Digitalisierungsinitiative und insbesondere fĂĽr "KĂĽnstliche Intelligenz-Vorhaben" fĂĽr die Justiz bis 2026 zur VerfĂĽgung.
Die Länder müssen "Digitalisierungsprojekte gemeinsam anpacken und ihre Kräfte bündeln" forderte die Niedersächsische Justizministerin Dr. Kathrin Wahlmann bei der jüngsten Justizministerkonferenz. So könnte die "Entstehung eines bundesweiten Flickenteppichs unterschiedlicher Digitalisierungslösungen" verhindert werden. Seit November 2023 gibt es bereits eine gemeinsame "KI-Vision der Justiz" für Bund und Länder, die heise online vorliegt und demnächst auch auf dem Justizportal www.justiz.de veröffentlicht werden soll.
Im Frühjahr 2025 soll eine KI-Strategie folgen, die derzeit noch final in Bund-Länder-Gremien abgestimmt wird - dies teilte der Erste Staatsanwalt Aniello Ambrosio als Pressesprecher des Ministeriums der Justiz und für Migration Baden-Württemberg auf Anfrage von heise online mit. Baden-Württemberg ist in der Bund-Länder-Zusammenarbeit für die Projektkoordination der KI-Strategie, der KI-Plattform und weiterer KI-Projekte in der Justiz zuständig. Der Bund will laut seiner Digitalstrategie seinerseits "Innovative Dienste" für die Justiz entwickeln oder die Länder bei der Entwicklung unterstützen.