Justiz am Limit – mit KI gegen Personalmangel und Verfahrensberge

Bleibt die Gerechtigkeit auf der Strecke? Die Justiz ächzt unter Masse und Umfang der Verfahren. KI soll helfen. Von der Umsetzung einer Vision in die Praxis.

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Roboterhand weist auf ein Papier, auf dem eine menschliche Hand mit Stift schreibt. Im Hintergrund ein Richterhammer

(Bild: Andrey_Popov/Shutterstock.com)

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Lesezeit: 13 Min.
Von
  • Imke Stock
Inhaltsverzeichnis

Die Justiz ächzt unter der Last unbearbeiteter Verfahren. Am Jahresende 2023 waren nach Auswertungen des Statistischen Bundesamts bundesweit noch 923.452 Verfahren offen. Was also tun, wenn die Rechtsprechung vergraben unter Aktenbergen auf dem Weg zur Gerechtigkeit liegenbleibt, weil Behörden überlastet sind? "Wir werden uns damit auseinandersetzen müssen, ob wir bei bestimmten Verfahren tatsächlich menschliche Intelligenz brauchen", sagte die Berliner Generalstaatsanwältin Margarete Koppers Anfang des Jahres zur dpa. Bund und Länder arbeiten seit Längerem an einem Plan, um Abläufe durch den Einsatz von KI innerhalb der Justiz effizienter zu gestalten.

"Recht im Umbruch – KI als Gamechanger?", fragt sich da nicht nur der EDV-Gerichtstag, dessen Veranstaltung im September unter diesem Titel stattfand. Tatsächlich ist KI in der Justiz auf dem Vormarsch. Wir werfen einen Blick auf die Umsetzung der "KI-Version" in die Praxis.

Obwohl die Staatsanwaltschaften in Deutschland im Jahr 2023 mehr als 5,5 Millionen Verfahren abgeschlossen haben, wächst der Berg an unerledigten Verfahren weiter – allein von 2021 bis 2023 um 25 Prozent. Justitia erstickt in der Masse, die Schriftsätze werden länger, Akten dicker und Regale voller. Je mehr Staub sich auf den einzelnen Fall niederlegt, desto besser für den oder die Täter. Statt anzuklagen, stellt die Justiz mehr und mehr Verfahren ein. "Die Anklagequote ist bundesweit gesunken, weil wir die Ressourcen nicht mehr aufbringen, alle Straftaten gleichermaßen zu verfolgen", stellt Generalstaatsanwältin Koppers fest. Und je länger ein Verfahren dauert, desto mehr Strafrabatt gibt es später bei einer Verurteilung vor Gericht, da Verfahrensverzögerungen laut BGH bei der Strafzumessung berücksichtigt werden müssen. Der Staat kann sich bei einer überlangen Verfahrensdauer nicht mit Umständen rechtfertigen, die innerhalb seines Verantwortungsbereichs liegen. Eine angespannte Personalsituation und daraus folgende Überlastung zählen nicht.

Nicht nur die Zahl von Massenverfahren und Umfangverfahren wächst. Auch das anzuwendende Recht wird immer umfangreicher; Gesetzestexte werden durch Verweisketten komplizierter. Wer soll das alles noch in der Kürze der Zeit lesen, fragt sich da so mancher Richter. Abhilfe können hier KI-gestützte Richterassistenz-Systeme schaffen. "1.000 Seiten in 1 Sekunde sichten" – das kriegt ein menschlicher Richter nicht hin, aber mit Hilfe von "Codefy" werde der Anwender solch "komplexe Verfahren beherrschen" und "nichts mehr übersehen" verspricht der Hersteller.

Eine Studie des Legal Tech Verbands sieht in Deutschland einen "großen heterogenen und wachsenden Markt". Nicht nur Rechtsanwälte und Kanzleien haben den Nutzen von "Legal Tech" entdeckt, auch der Staat möchte "Justice Tech" einsetzen. Wer einmal vor Gericht gesehen hat, wie sich Richter und Staatsanwälte auf der Suche nach einer Aussage in einem Schriftstück durch eine Umzugskiste voller Akten wühlen und der Rechtsanwalt währenddessen seelenruhig seinen Laptop aufklappt, um mal eben in Sekundenschnelle das Gesuchte zu finden, kann den Wunsch nach einer technologischen "Waffengleichheit" nachvollziehen.

Abseits der anwachsenden Verfahrenshalden kämpft die Justiz mit einem weiteren Problem: dem Fachkräftemangel. Bis 2030 werden über 25 Prozent aller Richter in den Ruhestand gehen, stellte eine Studie über die Zukunft der Digitalen Justiz im Jahr 2022 fest und bescheinigte Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern bei der Digitalisierung der Justiz 10 bis 15 Jahre hinterherzuhinken. Andere Länder haben "wohl bedeutend früher strategische Weichenstellungen und Anstrengungen für eine Digitalisierung der Justiz getroffen" meint der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages ein Jahr später in seinem Sachstandsbericht zur Digitalisierung der Justiz.

Nicht nur die CDU will KI umfassend in Justiz und Verwaltung verankern. Auch die Bundesregierung will die Justiz durch Digitalisierung und den Einsatz von KI effizienter und moderner machen. Bis zu 200 Millionen Euro stellt der Bund fĂĽr die Digitalisierungsinitiative und insbesondere fĂĽr "KĂĽnstliche Intelligenz-Vorhaben" fĂĽr die Justiz bis 2026 zur VerfĂĽgung.

Die Länder müssen "Digitalisierungsprojekte gemeinsam anpacken und ihre Kräfte bündeln" forderte die Niedersächsische Justizministerin Dr. Kathrin Wahlmann bei der jüngsten Justizministerkonferenz. So könnte die "Entstehung eines bundesweiten Flickenteppichs unterschiedlicher Digitalisierungslösungen" verhindert werden. Seit November 2023 gibt es bereits eine gemeinsame "KI-Vision der Justiz" für Bund und Länder, die heise online vorliegt und demnächst auch auf dem Justizportal www.justiz.de veröffentlicht werden soll.

Im Frühjahr 2025 soll eine KI-Strategie folgen, die derzeit noch final in Bund-Länder-Gremien abgestimmt wird - dies teilte der Erste Staatsanwalt Aniello Ambrosio als Pressesprecher des Ministeriums der Justiz und für Migration Baden-Württemberg auf Anfrage von heise online mit. Baden-Württemberg ist in der Bund-Länder-Zusammenarbeit für die Projektkoordination der KI-Strategie, der KI-Plattform und weiterer KI-Projekte in der Justiz zuständig. Der Bund will laut seiner Digitalstrategie seinerseits "Innovative Dienste" für die Justiz entwickeln oder die Länder bei der Entwicklung unterstützen.

Bis 2026 soll die gemeinsame KI-Plattform etabliert sein, über die Anwendungen "künftig ohne Hürden" unter den Ländern ausgetauscht und länderübergreifend eingesetzt werden können. Es soll auch eine "kontrollierte Übergabe von Justizdaten zur Ermöglichung KI-gestützter cloudbasierter Justizdienste" geben.

Die KI-Vision sieht die Schaffung eines "umfassenden KI-Ökosystems" vor. Zunächst soll die e-Akte flächendeckend eingeführt und der elektronische Rechtsverkehr etabliert werden. Darauf aufbauend soll KI zum Einsatz kommen, um "justizinterne Betriebsabläufe zu optimieren" und das Personal "von arbeitsreichen, repetitiven oder monotonen Tätigkeiten zu entlasten". Es soll eine Art Marktplatz entstehen, auf dem "unterschiedliche Akteure Plattformen, Applikationen und Service-, Dienste- und App-Anbieter nach Qualitätsprüfung für alle Bereiche der Justiz anbieten" können. KI-Funktionalitäten könnten auch regionalisiert und länderübergreifend angeboten werden und zur Folge haben, dass "eine Erweiterung zu einem gemeinsamen KI-Lösungsraum der Justiz möglich wird".

Gegenwärtig wird an der Spezifikation einer einheitlichen KI-Schnittstelle für die Anwendungen und E-Akten-Systeme für die KI-Plattform gearbeitet. Die deutsche Justiz teilt sich bundesweit nämlich nicht in einen, sondern in drei E-Aktenverbünde (e²A, eAS und eIP) auf. Für den Umgang mit elektronischen Akten zwischen den Behörden und Gerichten hat das Bundesjustizministerium Ende Oktober einen Verordnungsentwurf vorgelegt. Durch technische Standards soll "sichergestellt werden, dass Akten von Behörden auch über Ländergrenzen hinweg ohne Schwierigkeiten elektronisch an die Gerichte übermittelt und dort ohne Medienbrüche in den elektronischen Aktensystemen verarbeitet werden können". Bei der Übermittelung der elektronischen Akte ist außerdem ein "strukturierten maschinenlesbaren Datensatz" im XJustiz-Standard beizufügen, "damit die Gerichte die übertragenen Dokumente ohne Mehrarbeiten unmittelbar nutzen können".

Ob jedes Bundesland den Umstieg auf die E-Akte bis zum Stichtag am 01. Januar 2026 schafft, erscheint fraglich. Die Justiz in Sachsen-Anhalt hat für sich schon vor zwei Jahren einen "unwahrscheinlichem Nachholbedarf" festgestellt. Nun kündigte Sachsen-Anhalts Justizministerin Franziska Weidinger an, kurzfristig mit eigenem Justiz-Personal eine neue Infrastruktur aufzubauen, da man die "vollständige Umsetzung des Elektronischen Rechtsverkehrs innerhalb der gesetzlichen Fristen (...) auf den Systemen von Dataport (..) nach reiflicher Analyse für ausgeschlossen" hält, wie aus dem Protokoll des Rechtsauschusses vom 28.08.24 hervorgeht. Und das obwohl Dataport als IT-Dienstleister der Verwaltung in mehreren Bundesländern aktiv und an Projekten für die Digitalisierung der Justiz beteiligt ist – wie zum Beispiel EMIL (Erkenntnismittelassistent für Asylverfahren) oder einer KI-Technik für die Digitale Verfahrensdokumentation.

Für die Entwicklung von Anwendungen gilt das aus dem OZG bekannte EfA-Prinzip (Einer für alle), wobei es bei der Justiz eher ein Zwei oder Drei für Alle zu sein scheint, wenn man sich einige Projektbeschreibungen ansieht. Tatsächlich sei das im Bereich von Justice Tech und KI der "dynamischen technologischen Entwicklung" geschuldet, in der sich Stärken und Schwächen häufig erst im Laufe der Projektentwicklung zeigen würden, erklärt Ambrosio. "Verschiedene Ansätze für ähnliche Anwendungsfälle gibt es nicht trotz, sondern gerade wegen des EfA-Prinzips". Die Länder "oder sogar einzelne Dienststellen" könnten so jeweils für sich bewerten, welches der für sie besser geeignete Ansatz aus den unterschiedlichen Lösungen ist. Aufgrund der Koordinierung zwischen Bund und Ländern sei sichergestellt, dass es verschiedene Projekte nur für ähnliche, aber nicht für identische Anwendungsfälle gibt. "Soweit für eine Aufgabe die IT-technische Umsetzung klar definiert ist, werden die Länder im Wege des EfA-Prinzips oder als Entwicklungsverbund nur eine Lösung entwickeln."

Im "Ideenwettbewerb" der Lösungen für Massenverfahren treten neben Codefy auch OLGA (OberLandesGerichtsAssistent) und FRAUKE (FRAnkfurts UrteilKonfigurator Elektronisch) an, mit denen sich zum Beispiel Fluggastklagen oder Dieselskandalklagen in den Griff bekommen lassen sollen. Weiterhin ist mit MAKI ein weiterer Massenverfahrens-Assistenz in der Entwicklung. Auch ein Textanalysetool zur intelligenten Datenextraktion und Automatisierung der Aktenbearbeitung (INDATA) soll kommen; eine intelligente Dokumentenanalyse (IDA) und einen Asylaktendurchdringungsassistenten (ADA) gibt es schon. Die Allgemeine KI-RichterAssistenz AKIRA entpuppt sich mittlerweile als Proof of Concept für StruKI, dessen Ziel die Strukturierung und Zusammenfassung von Gerichtsakten ist.

Bayern hat derweil zusammen mit Berlin ein eigenes europaweites Vergabeverfahren für "eine Software für juristische Aktenstrukturierung" auf den Weg gebracht, die noch im Jahr 2024 zur Verfügung stehen soll. Auch eine Art JustizGPT ist in der Entwicklung: Bayern führt dazu mit Nordrhein-Westfalen ein gemeinsames Forschungsprojekt für ein Generatives Sprachmodell der Justiz (GSJ) durch. Es gibt noch zahlreiche andere Projekte, an denen die Justiz allein oder zusammen mit Unternehmen und Forschungseinrichtungen im Rahmen des EfA-Ideenwettbewerbs arbeitet und die als Produkt später auf dem KI-Marktplatz angeboten werden könnten. Wer da den Überblick behalten will, braucht schon selbst eine Assistenz, wie zum Beispiel in Form einer Liste. Solch eine Liste würde derzeit durch die Arbeitsgruppe Künstliche Intelligenz (AG KI) der Bund-Länder-Kommission für Informationstechnik in der Justiz (BLK) erstellt und soll nach Fertigstellung auch veröffentlicht werden, teilt Ambrosio auf Nachfrage mit.

"Die weitere Digitalisierung der Justiz ist eine wesentliche Voraussetzung für einen zukunftsfähigen und bürgernahen Rechtsstaat", sagt die Bundesregierung, ein "Win-Win für Bürger und Justiz" meint Marco Buschmann. Tatsächlich muss der Rechtsstaat eine funktionstüchtige Justiz gewährleisten. Es ist seine Aufgabe, alle Maßnahmen zu treffen, die geeignet und nötig sind und "die dafür erforderlichen – personellen wie sächlichen – Mittel aufzubringen, bereitzustellen und einzusetzen", sagt das BVerfG. Um die Überlastungsprobleme der Justiz in den Griff zu bekommen, gilt inzwischen KI als Mittel der Wahl. Die Gretchenfrage lautet: wo kommt KI wie zum Einsatz und was ist zu beachten?

Im Bereich der Strafverfolgung und Justizverwaltung werden KI-Systeme, die "bei der Ermittlung und Auslegung von Sachverhalten und Rechtsvorschriften und bei der Anwendung des Rechts auf konkrete Sachverhalte" unterstĂĽtzen, von der EU im AI Act als hochriskant klassifiziert. Solche Hoch-Risiko-Systeme mĂĽssen bestimmte Vorgaben zum Risikomanagement, der Daten und Datenverwaltung, Genauigkeit, Robustheit und Cybersicherheit, Dokumentations- und Transparenzpflichten einhalten und dĂĽrfen nur unter menschlicher Aufsicht laufen. Der AI Act ist im August 2024 in Kraft getreten, die Regulierung fĂĽr Hoch-Risiko-Systeme greift aber erst ab August 2026.

Systeme, die für "rein begleitende Verwaltungstätigkeiten bestimmt" sind und "die tatsächliche Rechtspflege in Einzelfällen nicht beeinträchtigen", unterliegen nicht der Hochrisiko-Einstufung des EU AI Acts.

KĂĽnstliche Intelligenz ist als Justitias Freund und Helfer inzwischen in einigen Gerichtsbereichen im Backoffice der Rechtsprechung angekommen. Welcher Einstufung dieses Backoffice dann unterliegt, wird die Interpretation und PrĂĽfung im Einzelfall zeigen mĂĽssen.

Dass der Einsatz von KI nicht ohne Risiko ist, zeigt die Datenbank "AI Risk Repository" mit über 700 Einträgen auf. Ein dort genanntes Risiko ist die "KI-Rechtsprechung", verbunden mit der Frage: Wer trägt die Verantwortung?

Die Europäische Kommission des Europarates für die Wirksamkeit der Justiz (CEPEJ) fordert in ihrem Aktionsplan zur Digitalisierung für eine bessere Justiz eine "menschliche Gerechtigkeit". Digitalisierung soll die Justiz effizienter machen, dürfe aber niemals den Richter ersetzen. Ein Richter urteilt über den Einzelfall zur aktuellen Zeit; die Rechtsprechung entwickelt sich weiter. "Die richtige Balance zu finden zwischen Gesetzesgehorsam und Korrektur des Gesetzes aus Gründen des Rechts ist die wahre Kunst des Richters" stellte Prof. Dr. Günter Hirsch als Präsident des BGH 2003 fest. Eine Maschine hat für solche Feinheiten der gelebten Rechtsprechung und dem Verhalten von Menschen kein Verständnis – egal wie allwissend, intelligent und empathisch sie erscheinen mag. Der Richter als Verantwortlicher muss selbst zu seiner Überzeugung für eine Entscheidung kommen, um ein Urteil im Namen des Volkes und nicht im Namen der KI zu sprechen.

Update

Absatz zum Verordnungsentwurf des Bundesjutizministeriums ergänzt.

(mho)