Missing Link: Rest in Pixels – Der Tod bleibt hart und schmerzhaft

Wer heute stirbt, ist längst noch nicht tot. Chatbots, Hologramme oder Android-Klone versprechen ewiges Leben. Hilft das den Hinterbliebenen?

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Missing Link: Rest in Pixels – Der Tod bleibt hart und schmerzhaft

(Bild: T_ushar)

Lesezeit: 12 Min.
Inhaltsverzeichnis

Eugenia Kuyda und Roman Mazurenko waren allerbeste Freunde, rein platonisch. Die beiden russischen Seelenverwandten hatten sich im Moskauer Nachtleben kennengelernt, waren später im Startup-Fieber nach San Francisco ausgewandert und hatten Unternehmen gegründet. Als Mazurenko in der alten Heimat noch ein paar Formalitäten abwickeln wollte, passierte das Unglück: Am Ufer der Moskwa unweit des Kreml fuhr ihn ein Auto an, wenig später erlag er seinen schweren Verletzungen.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Kuyda und Mazurenko hatten all die Jahre ihrer Verbundenheit intensiv per Messenger kommuniziert. Da der junge Mann an Dyslexie litt und es ihm schwer fiel, Texte oder Sprache auf Anhieb zu verstehen, ersetzte das Chatten oft sogar das persönliche Gespräch, wenn sie nebeneinander saßen. Der zum Zeitpunkt des Todes des Freunds 29-jährigen Russin blieb so ein riesiges Archiv ausgetauschter Nachrichten. Da sie damals dabei war, mit ihrer aufstrebenden Technikschmiede Luka einen digitalen Reservierungsassistenten für Restaurants zu entwickeln, kam ihr die Idee, mit der gesammelten Kommunikation und weiteren digitalen Erinnerungsstücken einen Chatbot zu füttern und dafür ein neuronales Netzwerk mit tausenden Zeilen Text zu trainieren.

Inspirieren ließ sich die Programmiererin von der Folge "Be right back" der TV-Serie Black Mirror, in der es um die Kreation einer Kommunikationsmaschine eines Verstorbenen mithilfe Künstlicher Intelligenz (KI) geht. So weit hergeholt fand Kuyda die Science-Fiction-Vorlage nicht und schuf mit ihrem Team einen Untoten in Form der "Roman"-App. Der Bot gibt sich ähnlich einfühlsam und interessiert an Mode sowie Architektur wie sein Vorbild, produziert aber teils reinen Unsinn. Mazurenkos Mutter war begeistert, fühlte sich trotz der technischen Schwächen direkt an ihren Sohn erinnert. Dessen Vater empfand es dagegen als schwer erträglich, Romans übliche Redewendungen von einem Programm zu lesen. Zudem antworte und reagiere der Bot manchmal schlicht "falsch", rügte er.

Eine "therapeutische Wirkung" auf sich und andere machte Kuyda trotzdem in dem Werkzeug aus. Es komme weniger darauf an, was das Programm von sich gebe. Wichtiger sei, dass es quasi zuhöre, wenn sich etwa ein Nutzer einsam fühle. Als allgemeiner ausgerichtetes Chatsystem hat die KI-Expertin daher mittlerweile "Replika" an den Start gebracht. Die als "dein KI-Freund" angepriesene App fragt Anwender zunächst nach ihren Vorlieben und Interessen und versucht so, ihre Nachrichtenstile zu imitieren.

Andere Startups wie Eternime tüfteln an Lösungen für Avatare von Lebenden und Verstorbenen. "Who wants to live forever?", lautet die offenbar rhetorisch gemeinte Frage auf der Webseite der Firma, die "virtuelle Unsterblichkeit" auf Erinnerungsbasis verspricht und bereits im Betastadium mit persönlichen Einladungen nach eigenen Angaben auf über 40.000 Nutzer kommt.

Moderatorin Teresa Sickert, Bestatterin Lea Gscheidel, Christopher Eiler (Columba) & Agnieszka Walorska (CreativeConstruction) (v.l.n.r.)

(Bild: heise online/Stefan Krempl)

Ähnlich wie Kuyda verfiel auch James Vlahos 2016 auf den Gedanken, im Angesicht des Todes eines ihm sehr nahestehenden Menschen Teile aus dessen Leben mithilfe eines Chatbots für die Nachwelt zu erhalten. Der US-Journalist erfuhr damals, dass sein 80-jähriger Vater an Lungenkrebs erkrankt war und voraussichtlich nur noch wenige Monate zu leben habe. Er ließ sich daher "die Lebensgeschichte" seines Vaters erzählen und erfuhr dabei neben ihm bereits bekannter Aspekte auch zahlreiche neue biografische Details. Die abgehörten Aufnahmebänder ergaben 91.970 Wörter, die ausgedruckt 203 Seiten füllten.

Schon als Elfjähriger war Vlahos, der das damalige Geschehen für Wired aufschrieb, von Eliza fasziniert, dem 1966 von Joseph Weizenbaum entwickelten Vorläufer heutiger Chatprogramme und Sprachassistenten. Dass der kritische Informatiker irritiert war, wie leicht Menschen der Maschine Mitgefühl unterstellten und so auf seinen "Taschenspielertrick" hereinfielen, wurde dem Medienmacher zwar später bewusst. Trotzdem dient ihm Eliza als Vorbild für den "Dadbot", den er nun selbst erzeugen will mithilfe des gesammelten Rohmaterials.

Einige Bedenken plagen Vlahos zwar noch. Seiner Erzählung nach sorgte er sich vor allem, "dass der Dadbot schlecht programmiert sein könnte". In diesem Fall würde der virtuelle Agent seine Familie "bestenfalls vage an den Mann erinnern, dem er nachempfunden" sei. Andererseits scheint der Vorsatz schon fast gefasst: "Sollte ein digitales Leben nach dem Tod ansatzweise möglich sein, ist die Person, die ich unsterblich machen möchte – mein Vater." Mithilfe der PullString-Software, die schon Barbie & Co. das Sprechen beigebracht hat, macht er sich ans Werk und kreiert Regeln und Metavorgaben für die Wiedergabe der aufgenommenen Sätze und Audiodaten.

Ein Ziel steht dem Hobby-Programmierer dabei insbesondere vor Augen: Er möchte, "dass der Dadbot wenigstens den Anschein erweckt, als besitze er menschliche Wärme und die Fähigkeit zur Empathie". Zudem soll das Programm auch aktiv die Richtung des Gesprächs bestimmen und über ein "rudimentäres Verständnis von Zeit" verfügen können. Wenige Monate später ist ein Prototyp des Bots auf Facebook-Messenger soweit, dass er getestet werden kann. Die Mutter als Versuchskaninchen ist rasch angetan von dem Austausch, nachdem das Chatsystem ihr eine für ihren Gatten so typische Grammatiklektion erteilt.

Der kurze Zeit später sterbende Vater selbst arrangiert sich ebenfalls mit dem Programm und findet, dass sich dieses "authentisch" anfühle. Dad habe es als tröstlich empfunden, dass der Bot anderen Menschen und vor allem den Enkeln Geschichten aus seinem Leben mitteilen könne, notiert der Sohn. Vlahos selbst ist sich nach dem gemachten Erfahrungen sicher: "Zukünftige Bot-Generationen werden wesentlich besser mit dem Material hantieren können, das ihnen eingepflegt wurde. Sie werden lange Unterhaltungen führen können, werden sich an das erinnern können, was gesagt wurde, und werden vorausahnen, wohin das Gespräch sich entwickeln wird."

Doch helfen derlei technische Möglichkeiten beim Abschiednehmen und bei der Trauer? "Die Endstufe ist ein androider Roboter", prognostizierte die Geschäftsführerin der Berliner Online-Agentur Creative Construction jüngst beim "Digitalen Salon" des Alexander von Humboldt Instituts für Internet und Gesellschaft (HIIG) unter dem Titel "Rest in Pixels". Im ersten Moment könnten es solche Klone Hinterbliebenen erleichtern, mit einem Schicksalsschlag umzugehen. Mittelfristig sieht die Expertin für Mensch-Computer-Interaktion aber das Problem, dass "ich mit der Person nicht mehr abschließen kann".

Chatbots und Avataren zum Trotz: "Grundsätzlich ist der Tod hart und schmerzhaft", konstatiert die Bestatterin Lea Gscheidel. "Er ist Teil des Lebens." Jeder Hinterbliebene versuche zwar, bestimmte Erinnerungen und Merkmale zu konservieren. Letztlich gehe es aber darum, "die Herausforderung anzunehmen, ohne den Geliebten weiterzuleben und wieder glücklich zu werden". Ein "Android des verstorbenen Mannes" auf dem Dachboden etwa löse da ganz praktische Schwierigkeiten aus, da dann nur schwer eine Beziehung mit einem neuen Partner aufgebaut werden könne. Ein Chatbot suggeriere immer wieder eine Interaktion mit der verstorbenen Person, erläutert auch der Psychologe Christian Lüdke. Dies könne den notwendigen Prozess der Auseinandersetzung mit dem Schmerz eher verzögern.

Prinzipiell beschreibt Gscheidel die Trauer als ein Gefühl, das "ein bisschen so ist wie rückwärts Verlieben". Wichtig sei es dabei, ab einem gewissen Punkt loslassen zu können. "Die Intensität, die Unerwartbarkeit überfordert uns oft", beschreibt die Angehörige des "Re.Designing Death Movement" typische Reaktionen auf einen Trauerfall. Wenn die Beziehungen zu einem Verstorbenen stark auf digitaler Kommunikation beruhten, seien soziale Netzwerke auch der Weg, um Abschied zu nehmen. Facebook & Co. böten eine "zusätzliche Möglichkeit, über einen Tod und einen Gestorbenen zu reden".

Früher sei das Phänomen der sogenannten Sternkinder oft totgeschwiegen worden, bringt die Bestatterin ein Beispiel. Jetzt kriege man online einfacher mit, dass ganz viele Eltern auch heutzutage noch mit Totgeburten oder frühen Kindstoten zu kämpfen hätten. Über Social Media könnten sich die Betroffenen mit Schicksalsgenossen breiter austauschen. Oft gebe es in solchen Fällen auch nach vielen Jahren noch erhöhten Gesprächsbedarf, wenn die eigenen Freunde längst nichts mehr davon hören wollten.

Das Phänomen der "digitalen Nekrophilie", wonach auf einmal alle Welt über soziale Netzwerke Beileidsbekundungen verbreitet, sobald jemand zumindest Halbbekanntes stirbt, findet Gscheidel nicht grundsätzlich schlecht. Sie spricht dabei von einer "gesamtgesellschaftlichen Suchbewegung, was adäquat ist". Als Prinzessin Diana gestorben sei, habe auch jeder öffentlich eine Rose abgelegt. Häufig ersetze ein "Rest in Peace" auf Facebook mittlerweile gar die Todesanzeige. Letztlich gelte: "Wir trauern nicht digital oder offline, sondern im Herzen."

Social Media seien bei einem Sterbefall gut und verstörend zugleich, meint die Insiderin Sarah Wenz, die "Sarggeschichten" auf YouTube erzählt. Früher habe man mehr Zeit gehabt, um etwa Trauerkarten drucken zu lassen. Heute stehe dagegen das knallharte "Bam" über Facebook. Verhindert werden sollte ihr zufolge auf alle Fälle, dass ein naher Verwandter oder Bekannter zuerst über soziale Medien vom Tod etwa eines Familienmitglieds erfahre. Hässlich sei es auch, dass bei Verdacht auf Mord das Profil des mutmaßlichen Täters sofort zugespamt werde oder Zeitungen von dort Fotos klauten. Hilfreich könnten dagegen "Support Groups" sein, über die Freunde etwa eine Totenwache organisierten.

Auch Gedenkprofile auf einem "digitalen Friedhof" hätten ihre Berechtigung, glaubt die Firmengründerin Walorska: "Letztlich ist das halt oft Facebook, wo die meisten Sachen, Fotos und Geschichten noch drin sind." Ob ein nicht mehr aktives Konto entsprechend umgestellt werde, sollte aber jeder Nutzer möglichst im Voraus noch selbst bestimmen. In Frankreich sei in diesem Sinne bereits ein Recht auf "postmortale Privatheit" eingeführt worden.

Der analoge Totenacker verliert für die Unternehmerin dagegen an Bedeutung: "Da werden nur noch die Überreste entsorgt." Die Bestatterin Gscheidel hat dagegen ein Faible für die analogen letzten Ruhestätten. Diese bildeten nicht nur Oasen für "Insekten, Vögel und Eichhörnchen", sondern stellten auch einen Gegenpol zu hektischen Orten wie dem Bahnhof oder der Shopping-Mall in Städten dar: "Die Toten bewahren davor, dass noch mehr Orte zugebaut werden."

Verstörend wirken automatisierte Geburtstagserinnerungen über soziale Netzwerke für Freunde, die schon ein halbes Jahr oder länger tot sind. Ein solches unschönes Vorkommnis bestärkte Christopher Eiler in dem Bestreben, mit Columba einen Dienstleister "für digitale Nachlassregelung" ins Leben zu rufen. Dieser soll die Hinterbliebenen von zusätzlichen Belastungen und Bürokratiekram rund um das digitale Erbe befreien, also etwa das Facebook-Konto stornieren oder die Rentenversicherung kündigen.

Die dafür entwickelte Web-Anwendung kann laut Eiler bestehende Verträge ab- oder ummelden und dabei "vor allem Kostenpflichtiges finden und rechtzeitig beenden". Der zugehörige Algorithmus recherchiere automatisiert "bei über 100 Partnerunternehmen von Amazon über Netflix bis Zalando nach bestehenden Konten". Weitere Anbieter könnten individuell nachgetragen werden. Oft ließen sich so etwa Abonnements rasch per Klick kündigen, teils müssten Mitarbeiter aber nachfassen und sich durch Hotlines kämpfen. Manche der Vertragspartner hätten nämlich handfeste kommerzielle Interessen und wollten etwa einen Handy-Vertrag nicht einfach so aufgeben. Hilfreich ist es in solchen Fällen, wenn der Kunde selbst vor seinem Tod festgelegt hat, dass das Vertragsverhältnis nach seinem Ableben nicht weiter bestehen soll.

Columba kooperiert mittlerweile mit dem Bundesverband deutscher Bestatter, an das System der Berliner Firma sind hierzulande gut 12.000 Beerdigungsinstitute angeschlossen. Über ein "Formalitätenportal" können Nutzer des kostenpflichtigen Dienstes verfolgen, welche Konten das System aufgespürt hat und wie der Stand der Dinge dort ist. Durchschnittlich werden über den Service bei jedem Verstorbenen zwölf Accounts stillgelegt oder umgemeldet. Nur etwa die Hälfte davon sei den Angehörigen vorher bekannt gewesen.

Das jüngst ergangene Urteil des Bundesgerichtshofs, wonach die Erben Zugang zum Facebook-Profil eines Verstorbenen erhalten müssen, begrüßt Eiler. Der Beschluss schließe eine Lücke in den Nachlassbestimmungen. In dem Fall habe es zudem ein deutliches berechtigtes Interesse der Eltern gegeben, mögliche Einsichten in Suizidgedanken der verlorenen Tochter zu erhalten. Generell sollte jeder Nutzer von Kommunikationsdiensten im Netz aber selbst bestimmen können, ob etwa Chats im Todesfall gelöscht werden. Auch Dienste wie Columba könnten es einem nicht abnehmen, sich darum zu kümmern, solange es noch möglich sei. Das Gute daran: "Man setzt sich mit dem Tod auseinander." (mho)