Missing Link: Wem gehört die Wahrheit? Vom Ars Electronica Festival 2023. Teil 2

Das Ars Electronica-Motto lautet "Wem gehört die Wahrheit?". Der künstlerische Leiter sieht nach der Wissensrevolution die Wahrheitsrevolution kommen. Teil 2.

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Lesezeit: 10 Min.
Von
  • Johannes Schacht
Inhaltsverzeichnis

Teil 1 des Missing Link: Wem gehört die Wahrheit? Vom Ars Electronic Festival 2023 lesen Sie hier.

Dem Kunstwettbewerb der Ars Electronica mit seinen Kategorien und den Goldenen Nicas als Trophäen sollte man sich nicht mit dem Veranstaltungsmotto nähern. Die Künstler erstellen ihre Arbeiten nicht nach dem jeweiligen Festivalthema, sondern folgen ihrem jeweils eigenen Pfad. Oft befassen sie sich über viele Jahre mit einem Thema und die Auswahl der Jury soll sich auf die künstlerische Qualität fokussieren. Wobei auch das nicht ganz richtig ist, denn die übergeordnete Maßgabe ist es, die breite Vielfalt an Ansätzen auf dieser Welt zu reflektieren. Es ist sicherlich eine diffizile Abwägung zwischen Qualität und Vielfalt, die hier getroffen werden muss, und es ist wohl kaum möglich, beiden Kriterien bei der Auswahl der zu prämierenden Arbeiten gleichermaßen zu genügen, aber die Entscheidung zugunsten der Vielfalt lässt sich gut vertreten.

Es ist natürlich eine Mammutaufgabe für jede der Nica-Jury, ihre je über tausend Einreichungen in einer Zwei- oder Dreitages-Session zu bewerten und es wäre ein Wunder, wenn es dabei zu einem hundertprozentig objektiven oder gerechten Ergebnis käme. Das Soziosystem aus Künstlern, Jury-Mitgliedern und den Festivalverantwortlichen spiegelt sich letztlich in der Ausstellung. Dazu kommt, dass die Kategorien sich im Laufe der Jahre ändern. Viele Künstler in der Medienkunst sind begierig, neues künstlerisches Terrain zu erobern und sprengen einmal geschaffene Kategoriengrenzen. Statt ein festes Schema aufrechtzuerhalten, versucht sich die Ars Electronica dem jeweils erspürten Trend anzupassen.

Neu in diesem Jahr war die Kategorie "New Animation Art". Nachdem über Jahre in dem Symposium "Expanded Animation" darüber gesprochen wurde, dass Animation heute viel mehr als computer-generierte Kurzfilme umfasst, beispielsweise auch Computerspiele, wurde nun dem veränderten Anspruch Rechnung getragen. Wobei es sich fragt, ob der Name geschickt gewählt ist. Das "New" wird in ein paar Jahren vielleicht "alt" aussehen.

Wir haben auch diesmal mit Prof. Dr. Jürgen Hagler, Leiter des Departments Digitale Medien am Campus der FH Hagenberg gesprochen, dem "Mastermind" hinter allem, was auf der Ars Electronica mit Animation läuft. Die Erweiterung müsse immer auch mit einer Reduktion einhergehen, sonst verliere die Kategorie jeden Fokus, so Hagler. Für ihn geht es in Zukunft verstärkt darum, die künstlerische Seite, wie auch das Storytelling in den Mittelpunkt zu stellen. Technische Effekte und Leistungsshows müssen dafür zurücktreten. Es ergibt für Hagler wenig Sinn, auf der Ars Electronica Arbeiten zu zeigen, die genauso gut auf einem Animation-Festival laufen könnten.

Jürgen Hagler

(Bild: Dorothea Cremer-Schacht)

Die Frage, ob in diesem Jahr, die Bildgenerierung mit Midjourney, Dall-E oder Stable-Diffusion die künstlerische Produktion dominiert habe, negiert Hagler. Vielleicht auch, weil die typischen Bilder mit ihren Artefakten, die mit den Text-zu-Bild-Generatoren erzeugt werden, bald unsere Bilderwelt fluten werden und niemanden mehr interessieren. Künstler, die sich vor allem mit ihrem Medium auseinandersetzen, hat die Avantgarde stets hervorgebracht, noch dominiert aber die Nutzung der KI im Hintergrund. Was sich aber ändern muss, so Hagler, ist die Ausbildung im Bereich der Medienkunst. Ein großer Teil des Handwerkzeugs, das Studenten erlernen sollen, wird durch KI obsolet. In Zukunft wird es weniger darauf ankommen, Werkzeuge zu beherrschen, als mit den Ergebnissen der Werkzeuge umgehen zu können.

Der Schwerpunkt des diesjährigen Expanded-Animation-Symposiums war "Performance", etwas, das der KI noch verwehrt ist. Ein Beispiel dafür ist die Künstlern Miwa Matreyek (US/CA), die zu ihren eigenen Animationen als Schattenbild tanzt. Ihre Leinwand wird von zwei Seiten von einem Beamer bespielt, während sie als Schattenfigur mit den Bildern interagiert. Durch geschickte Choreografie entstehen überraschende und ungewohnte Bilder. Beeindruckend auch die Vorstellung der jungen Japanerin Akiko Nakayama. Sie träufelt oder schüttet Farben in eine Schale und projiziert ihr Fließen und Zerfließen in stark vergrößerten Ausschnitten auf die Leinwand. Die daraus resultierenden abstrakten und bewegten Bilder können es gut mit digital animierten Videos aufnehmen.

Infinitely Yours/Miwa Matreyek (US)

(Bild: Keida Mascaro)

Akiko Nakayama

(Bild: Dorothea Cremer-Schacht)

Die Kategorie "Digital Musics & Sound Art" war, neben Animation und Computer Graphics, die es heute nicht mehr gibt, eine Gründungskategorie. Die Gewinnerarbeit ist "A Tale of Two Seeds: Sound and Silence in Latin America's Andean Plains" des Kolumbianers Juan Cortés. Er befasst sich mit den Auswirkungen des Soja-Anbaus durch große Agrarkonzerne. Die Monokultur zerstört die Böden. Schon der Vater des Künstlers hat sich mit diesem Skandal auseinandergesetzt. Während der Vater wissenschaftlich arbeitet, geht der Sohn einen künstlerischen Weg. Er steckt Mikrofone auf die Felder und in die Böden und zeichnet die Geräusche von Vögeln, Insekten, Würmern und anderem Getier auf. So vergleicht er die Sounds von Böden, die noch in der traditionellen Weise bearbeitet werden und solchen, die einem modernen Agrarmanagement unterliegen. Der Verlust der Artenvielfalt ist durchaus hörbar.

Juan Cortés

(Bild: Dorothea Cremer-Schacht)

Cortés Anliegen ist ohne Frage wichtig. Aber das Sound-Ergebnis allein bliebe ohne den Entstehungshintergrund nur ein bisschen Geräusch. Auf die Frage, ob denn das eigentliche Kunstwerk, ohne den gesellschaftlichen Hintergrund bedeutungslos sei, erklärt Cortés, dass seine Untersuchungen und seine politische Arbeit in dem Projekt mit zum Werk gehören, sein Kunstbegriff ist weit gefasst.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Viele Werke auf der Ars Electronica, auch außerhalb der Kategorie "Digital Musics & Sound Art" sind so gestrickt. Es werden Daten aus irgendwelchen Zusammenhängen extrahiert, dann transformiert und anschließend sicht- oder hörbar gemacht. Die Quelle der Daten ist dann häufig mit einem gesellschaftspolitischen Anliegen, wie Umweltschutz, Minderheitenschutz, Dekolonisierung, Gerechtigkeit aufgeladen.

Julia Rommel

(Bild: Dorothea Cremer-Schacht)

Julia Rommel aus Deutschland zieht für ihre Arbeit "zwischenraum – interspace – acoustic cartography" sehr persönliche Daten heran. Sie musste früher viel reisen, oft ging ihr die klare Bestimmung eines Wohnorts verloren. Die Reisezeit, eigentlich der Zwischenraum zwischen zwei Orten, wurde zu einem eigenen Ort für sie. Akribisch hat sie Daten gesammelt über jede räumliche Veränderung, die länger als zwei Minuten dauerte. Sie notierte Start- und Endzeiten, bei Flügen die Zeit zwischen Buchung und Abflug, bei Zugreisen, die Kurven, die die Züge durchfuhren, sowie die Begegnungen mit anderen Zügen. Diese Daten übersetzt sie in ansprechende grafische Visualisierungen. Die Kurven, die ein Zug durchfährt, sind beispielsweise dargestellt als Kreise mit den Kurvensegmenten, hervorgehoben in Länge und der von ihrem Kompass gemessenen Orientierung. Das alles von Hand, denn die Aufzeichnung begannen vor der Erfindung des Smartphones.

Diese Partituren werden ihrerseits in Töne übersetzt und ein Cursor zeigt an, welcher Teil der Partitur gerade abgefahren wird. Es macht viel Spaß, das zu verfolgen, die Künstlerin selbst kann die abstrakten Informationen zu ihrem jeweiligen Erlebnis zurückverfolgen. Wir konnten immerhin das Kreisviadukt von Brusio in den Schweizer Bergen ausmachen.

zwischenraum – interspace – acoustic cartography

(Bild: Dorothea Cremer-Schacht)

Die dritte Kategorie neben dem U19-Wettbewerb war diesmal die Kategorie "AI & Life Art". Gewinner war "Unerasable Characters Series" von Winnie Soon, die das Ausmaß der staatlichen Zensur in Hongkong mit einem sich ausdünnenden Chat-Raum oder einem Stapel von Löschprotokollen visualisiert. Die zweiten Preise gingen an Ionat Zurr, Steve Berrick und Oron Catts aus Australien, die in ihrer Arbeit "Sunlight, Soil & Shit (De)Cycle-3SDC" die Erzählung der sauberen Lebensmittelproduktion in Labor-Settings hinterfragen und "Shadows from the Walls of Death", des US-Amerikaners Adam Brown, der die Geschichte einer giftigen, arsenhaltigen grünen Farbe aufarbeitet. Es ist insgesamt nicht deutlich, wie die Arbeiten mit der Kategorie zusammenhängen, in der sie prämiert wurden.