Missing Link: Wie die ESA-Sonde Gaia die Astronomie revolutioniert

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Die Revolution von Gaia ist denn auch in erster Linie eine der Präzision. Schauen wir uns anhand von ein paar Arbeiten des vergangenen Monats an, wie Gaia die unterschiedlichsten Fachgebiete der Astronomie befruchtet.

Die Arbeit eines Teams um Laura Watkins vom Space Telescope Science Institute beschäftigt sich mit der Bestimmung der Masse unserer Milchstraße. Bisherige Abschätzungen streuten zwischen 500 Milliarden und 3 Billionen Sonnenmassen, von denen der größte Teil in einem kugelförmigen Halo aus Dunkler Materie stecken soll, der die Milchstraße einhüllt. Dank Gaia liegen nun die Raumgeschwindigkeiten von 75 Sternhaufen vor, welche die Milchstraße innerhalb des Halos umkreisen, und ihre Geschwindigkeiten spiegeln die innerhalb ihres Abstands vom Milchstraßenzentrum eingeschlossene Masse wider.

Die Autoren fanden 220 Milliarden Sonnenmassen innerhalb von ca. 70.000 LJ, 440 Milliarden innerhalb von 130.000 LJ und extrapolierten daraus eine Masse von ca. 1700 Milliarden Sonnenmassen für die Milchstraße mitsamt Halo innerhalb von ungefähr 1 Million Lichtjahren, einem Wert in der Mitte des bisher geschätzten Bereichs. Die überwiegende Masse der Milchstraße steckt demnach im sternenarmen Halo – eben Dunkle Materie.

Sterne zwischen 0,5 und 8 Sonnenmassen beenden ihr Leben als Weiße Zwerge, superdichte Objekte von nur ungefähr Erdgröße aber einer Masse von bis zu 1,4 Sonnenmassen – erheblich weniger als die bis zu 8 Sonnenmassen ihrer Vorläufersterne. Bevor aus einem sonnenähnlichen Stern ein Weißer Zwerg wird, muss er in seiner Phase als aufgeblähter Riese eine Menge Gas als Sternenwind verlieren. Bisher war kaum bekannt, welche Massen die Vorläufersterne Weißer Zwerge einer bestimmten Masse haben.

Kareem El-Badry (von der University of California, Berkeley) und andere haben dem DR2-Katalog eine Statistik aller Weißen Zwerge innerhalb 300 Lichtjahren entnommen – so nahe, damit die Liste wirklich alle Kandidaten erfasst und keine lichtschwachen durch das Raster fallen. Die Massen der Weißen Zwerge konnten sie anhand ihrer Leuchtkraft und Temperatur abschätzen. Durch Vergleich der relativen Häufigkeiten dieser Massen mit der Häufigkeitsverteilung der Massen frisch entstandener Sterne, die an jungen Sternhaufen ermittelt werden kann, konnten sie eine um eine Größenordnung präzisere Beziehung zwischen den Massen der Vorläufersterne und jenen Weißer Zwerge herstellen.

Der genaue Mechanismus, der einen Weißen Zwerg als Supernova vom Typ Ia explodieren lassen kann, ist umstritten. Das Standardmodell sieht vor, dass Wasserstoff von einem zum Riesen angewachsenen Doppelsternpartner auf den Weißen Zwerg hinüber fließt, bis genug Druck aufgebaut ist, um bei etwa 1,4 Sonnenmassen die explosionsartige Fusion des gesamten Sterns auszulösen, die ihn komplett zerreißt. Dann sollte man jedoch die Begleitsterne mit erhöhter Geschwindigkeit – ihrer ehemaligen Bahngeschwindigkeit als Doppelsternpartner – von den noch Tausende Jahre lang nachweisbaren Explosionswolken forteilen sehen, was nie beobachtet wurde.

Die Bahn des Hochgeschwindigkeitssterns D6-2, welche sich zum Supernova-Überrest G70.0-21.5 zurückverfolgen lässt, mutmaßlich vom Typ Ia.

(Bild: Ken J. Shen et. al)

Ein alternatives Modell besagt, dass der Doppelsternpartner selbst ein Weißer Zwerg sein könnte, der kurz vor einer Verschmelzung in rasendem Umlauf mit exponentiell wachsender Rate Materie an den schwereren Partner verliert, was dessen Detonation auslöst. In diesem Fall sollte man einen Weißen Zwerg erwarten, der dem Supernovaüberrest mit 1000 bis 2400 km/s entflieht. Ken J. Shen (ebenfalls von der University of California, Berkeley) und andere beschreiben in ihrer Arbeit, dass sie im DR2 drei hyperschnelle Weiße Zwerge aufspüren konnten, und für einen davon gibt es sogar einen passenden Supernovaüberrest, was die Theorie der Binärsysteme aus zwei Weißen Zwergen als Verursacher der Typ-Ia-Supernovae eindrucksvoll untermauert.

Das Weltraumteleskop Kepler hat seit 2009 tausende von Planeten anderer Sterne aufgespürt, indem es winzigste Abschattungen des Sternenlichts registrierte, die ein vor der Sternenscheibe durchziehender Planet verursacht. Die Abschattung liefert ein Maß für die relative Größe des Planetenscheibchens im Vergleich zur Fläche der Sternenscheibe. Die Größe der Sternenscheibe kann wiederum nur anhand des Sternentyps (Spektralklasse, Leuchtkraftklasse) grob abgeschätzt werden, und die Helligkeit als Grundlage der Leuchtkraftklasse hängt empfindlich von der Entfernung ab.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Travis Berger von der University of Hawaii und Kollegen identifizierten den Großteil der fast 200.000 von Kepler beobachteten Sterne im Gaia DR2, bestimmten ihre Entfernungen und fanden rund 1500 davon im Kepler-Katalog falsch klassifiziert: Zwerge als Riesen oder umgekehrt. 4400 Sterne waren für ihren Typ deutlich zu hell, was darauf hindeutet, dass sie einen unsichtbaren Doppelsternbegleiter haben, der ihren Durchmesser verfälscht. Die meisten Planeten zwischen 1 und 5 Erddurchmesser waren demnach vom Kepler-Projekt etwas zu klein geschätzt worden.

Das DR2-Archiv ist für jeden im Netz frei zugänglich und kann mit der Datenbank-Anfragesprache ADQL durchsucht werden. So steht es jedem frei, in diesem unbezahlbaren und dennoch kostenlosen Schatz zu stöbern. Erst die zukünftigen Datensätze DR3 (Ende 2020) und DR4 (Ende 2022) werden jedoch die endgültige Präzision und Vollständigkeit erreichen.

Mehr über die Technik von Gaia und die hier vorgestellten und weitere Arbeiten gibt es auf Alpha Cephei – dem Blog des Autors – unter dem Stichwort Gaia. (mho)