Missing Link: Wie die Sterne im Zentrum der Milchstraße vermessen werden

Seite 2: SINFONI: Spektrales Multitasking

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Weil der Zerschneide-Trick nicht mehr Detektorpixel zur Verfügung stellt, bleiben die erreichbaren Bildfelder meistens eher klein: SINFONI besitzt 64 × 32 räumliche Pixel und 2048 spektrale. Dem idealen Abtastmuster entspricht eine räumliche Abbildungsfunktion mit einem Raster von zwei bis vier Pixeln, um die eingefangenen Photonen bestmöglich zu nutzen. Deshalb ergibt sich ein Bild, das etwa 202 bis 302 bzw. 400 bis 900 unabhängige Bildelemente besitzt.

Trotz des begrenzten Gesichtsfeldes lassen sich Dutzende von Sternen parallel spektroskopieren: Dieses "Multiplexen" ist einer der großen Vorteile der IFS. Darüber hinaus ist es nicht nötig, bereits vor der Aufnahme die Orientierung des Spalts festzulegen, weil die IFS de facto alle möglichen Spalte gleichzeitig legt. Entsprechend muss zum Beispiel von einer Galaxie die Orientierung der dynamischen Achsen nicht a priori bekannt sein, um entlang dieser die Doppler-Geschwindigkeiten der Sterne oder des Gases zu messen.

Unser Team am MPE hat die Integral Field Spectroscopy weltweit erstmals realisiert – zunächst mit "3D", das in den 1990er-Jahren an einem der kleineren ESO-Teleskope zum Einsatz kam. 3D war ein Vorläufer für SINFONI, das wir 2004 am Very Large Telescope (VLT) installiert haben: SINFONI kombiniert IFS mit adaptiver Optik. Diese trickreiche Technik gleicht die stets vorhandene, störende Luftunruhe aus ("Seeing"). Dadurch werden die Bilder und Datenkuben beugungsbegrenzt. Das VLT erreicht so im nahen Infrarot bei einer Wellenlänge von 2 µm eine Auflösung von 60 Millibogensekunden.

Dazu gilt es, die Wellenfront des Lichts eines geeigneten Sterns in der Nähe zu analysieren, um einen optisch konjugierten, verformbaren Spiegel etwa hundert- bis tausendmal pro Sekunde so zu verbiegen, dass er den Effekt der Atmosphäre wieder rückgängig macht und die Wellenfront glättet. Sowohl der Wellenfrontsensor als auch der verformbare Spiegel liegen in einer Pupillen ebene des optischen Systems. Einige Hundert Sensorelemente und entsprechend viele Aktuatoren sorgen für die korrekte Verformung, falls die Interaktionsmatrix zwischen Sensorsignalen und Aktuatorimpulsen bekannt und schnell genug anwendbar ist.

Gestochen scharfe Bilder belohnen für die Mühe (siehe Titelbild). Ohne adaptive Optik begrenzt das Seeing die Auflösung typischerweise auf etwas weniger als eine Bogensekunde: Ein rund 20-mal schlechterer Wert als ihn ein Acht-Meter-Teleskop theoretisch ermöglicht.

Wir haben SINFONI vor allem für zwei Projekte eingesetzt: die Erforschung der Galaxiendynamik im frühen Universum und der Sterndynamik im galaktischen Zentrum. Der gasförmige Wasserstoff in einer Galaxie emittiert unter anderem die bekannte Hα-Linie bei 656 nm. Bei fernen Galaxien verschiebt die kosmologische Rotverschiebung z das Signal zu längeren Wellenlängen: Bei z = 2, in einer Entfernung von rund 9 Milliarden Lichtjahren, findet sich die Linie im nahen Infrarot, dem astronomischen K-Band bei 2 µm. Solche Wellenlängen deckt SINFONI ab: Sie lassen sich gut mit adaptiver Optik korrigieren.

Die Epoche vor 9 Milliarden Jahren heißt auch "cosmic noon", weil zu dieser Zeit die meisten Galaxien entstanden. Die räumlich aufgelöste Spektroskopie mit SINFONI erlaubte uns, die zweidimensionalen Radialgeschwindigkeitsfelder der jungen Galaxien erstmals zu untersuchen. Zu unserem Erstaunen zeigten die meisten ein Feld, das auf eine sehr geordnete Rotation schließen lässt – ganz wie bei heutigen Spiralgalaxien. Entgegen der vormals allgemein verbreiteten Annahme wachsen Galaxien also nicht hauptsächlich durch chaotische Kollisionen mit anderen Galaxien. Vielmehr füttert sie über lange Zeit ein geordneter Gaszufluss aus dem großräumigen, kosmischen Netz auf das Massezentrum.

Ein anderer Grund macht das K-Band interessant, um das galaktische Zentrum zu beobachten. Bei optischen Wellenlängen verwehrt uns der interstellare, absorbierende Staub den Blick ins Zentrum der Milchstraße vollkommen. Aber der Schleier lichtet sich bei Wellenlängen jenseits von 1,5 µm. Da sich im K-Band auch die thermische Emission von Sternen zeigt, unterscheiden sich die erhaltenen Bilder kaum von optischen.

Wenige Jahre vor der Entwicklung von SINFONI zeigten unsere beugungsbegrenzten Bilder vom galaktischen Zentrum im K-Band, dass sich einzelne Sterne auf ihren Bahnen um das zentrale Schwarze Loch verfolgen lassen. Dieses System ist ähnlich hierarchisch strukturiert wie das Sonnensystem, wobei die Sterne die Testteilchen für das Potential einer rund 200.000-mal schwereren Masse als der Sonne darstellen.

Während der Fertigstellung von SINFONI überschlugen sich die Ereignisse: Der Stern S2 flog 2002 durch das Perizentrum seines Orbits und ermöglichte es, diesen mit einer Umlaufdauer von 16 Jahren zu messen und die Masse des Schwarzen Lochs zweifelsfrei auf 4 Millionen Sonnenmassen zu bestimmen. Diese Messung liegt den Arbeiten zugrunde, für die unser Teamleiter Reinhard Genzel und die Leiterin eines kalifornischen Forscherteams Andrea Ghez den Physik-Nobelpreis 2020 erhalten haben.

Beugungsbegrenzte Einzelteleskope (a, rot) haben den Orbit des Sterns S2 von 1992 bis 2017 vermessen, GRAVITY (blau) hat von 2016 bis 2021 interferometrisch dazu beigetragen. Zwischen 2003 und 2019 lieferten Messungen mit SINFONI die Radialgeschwindigkeiten von S2 (b).

Das Design von SINFONI haben wir unter anderem für die Beobachtung von Sternen in Umlaufbahnen um das Schwarze Loch mit Perioden von wenigen Dekaden optimiert. Die wählbaren spektralen Auflösungen passen zu den natürlichen Linienbreiten, welche die Wasserstoff-, Helium- und Kohlenmonoxid-Linien in den Spektren der Sterne besitzen. Eine der Gesichtsfeldgrößen deckt gerade den spannendsten Bereich der zentralen Bogensekunde um das Schwarze Loch ab und tastet dabei die scharfe Abbildungsfunktion der adaptiven Optik mit 4 × 4 Pixeln ab. In diesem Modus haben wir zwischen 2003 und 2019 die Radialgeschwindigkeiten von knapp 50 Sternen regelmäßig gemessen.

Besonders dramatisch und am besten dokumentiert ist die Radialgeschwindigkeit von S2: Der Stern durchlief 2018 zum zweiten Mal während unserer 30 Jahre dauernden Beobachtung das Perizentrum seiner Bahn. Dabei erreichte er eine Geschwindigkeit von knapp 8000 km/s, die sich innerhalb weniger Wochen stark veränderte. Die Messungen zeigen, dass der Stern eine Doppler-Rotverschiebung von +4000 km/s erreichte, bevor ihn nach wenigen Wochen die Schwerkraft des Schwarzen Lochs auf eine Blauverschiebung von –2000 km/s katapultierte (Abb. s. oben).

Das Zusammenspiel von Astrometrie (gemessen in Winkeleinheiten) und Radialgeschwindigkeit (gemessen in absoluten Einheiten) erlaubt es beispielsweise, die Proportionalitätskonstante zwischen den beiden ohne weitere Annahmen zu bestimmen und damit den Abstand zum galaktischen Zentrum.

Die Maximalgeschwindigkeit von S2 beträgt 8000 km/s. Das entspricht 2,5 Prozent der Lichtgeschwindigkeit, sodass sich der Stern leicht relativistisch bewegt. Damit erlaubt er es, die Gültigkeit der relativistischen Formeln im Schwerkraftfeld eines Schwarzen Lochs zu überprüfen. Der erste detektierbare Effekt ist spektroskopisch: Die Kombination von transversalem Doppler-Effekt und Gravitationsrotverschiebung sollte das Licht von S2 beim Perizentrumsdurchgang um etwa 200 km/s röter erscheinen lassen – eine Änderung, die SINFONI mit einem Messfehler in der Radialgeschwindigkeit von S2 von nur 10 km/s nicht herausfordert.

Allerdings gilt es, neben dem eigentlichen Effekt 13 weitere Parameter zu bestimmen: die jeweils sechs Phasenraumkoordinaten des Sterns S2 und des Schwarzen Lochs sowie dessen Masse. Einige Parameter, wie Abstand und Masse des Schwarzen Lochs, sind astrophysikalisch interessant, andere weniger. Das verkompliziert die Messung, und man benötigt die astrometrische Bahn. Diese lässt sich mit GRAVITY zwanzigmal besser bestimmen als mit adaptiver Optik.