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Missing Link: Zur Gewalt in Computerspielen 20 Jahre nach der Amoktat von Erfurt

Andreas Wilkens

Gedenken an die Opfer des Amoklaufs am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt.

(Bild: Martin Schutt, dpa)

Robert Steinhäuser tötete am 26. April 2002 16 Menschen und sich selbst, danach wurde viel über "Killerspiele" diskutiert. Ein Blick zurück und auf das Heute.

Gewalt kann Macht nur zerstören, sie kann sich nicht an ihre Stelle setzen.
Hannah Arendt

"Eine solche Rohheit hat auch etwas damit zu tun, dass wir insgesamt schrittweise Übergriffe hingenommen haben", sagte der frühere SPD-Chef Kurt Beck im Februar dieses Jahres zu den Morden an einem 29 Jahre alten Oberkommissar und einer 24 Jahre alten Polizeianwärterin im Landkreis Kusel in Rheinland-Pfalz. Insbesondere durch das Internet habe sich Brutalität in die Gesellschaft geschlichen und bei vielen Menschen die Hemmschwelle zur Gewalt gesenkt. Und noch einen Aspekt nannte Beck, der für die Förderung der Gewalt wichtig sei: "bestimmte Videospiele".

In der jüngeren Vergangenheit waren solche Äußerungen nicht so häufig zu vernehmen, insofern und auch, weil Beck mittlerweile im Ruhestand und längst nicht mehr Vorsitzender der Rundfunkkommission der Länder ist, klingt er wie eine Stimme aus der Vergangenheit. Wenn es in jüngster Zeit zu größeren Gewalttaten Einzelner kam, dann war eher die Rede von "Radikalisierung im Netz", zumal immer häufiger Islamisten und Rechtsradikale mit ideologisch motivierten Mordtaten in Erscheinung traten. Zu Lebzeiten Robert Steinhäusers gab es noch nicht die sozialen Medien, wie wir sie heute kennen. Mit seinen Mordtaten löste er eine breite Debatte aus, die auch auf heise online ihren Niederschlag fand [1].

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Steinhäuser erschoss am 26. April 2002, dem Tag der letzten schriftlichen Abiturprüfungen im Gutenberg-Gymnasium in Erfurt zwölf Lehrerinnen und Lehrer, eine Schülerin und einen Schüler, eine Schulsekretärin, einen Polizisten und sich selbst. Er war seit Herbst 2000 ein "sehr aktives" Mitglied eines Schützenvereins, bekam im Jahr darauf Besitzkarten für langläufige Waffen und kaufte sich eine Pistole und eine Pumpgun. Am Morgen des Tattages habe er sich mit einem Egoshooter auf seine Tat "eingestimmt", heißt es in dem abschließenden Bericht der "Kommission Gutenberg-Gymnasium" [3] (PDF) des damaligen thüringischen Justizministers Karl Heinz Gasser, der knapp zwei Jahre nach dem Amoklauf vorgelegen hatte.

Schnell nach Steinhäusers Amoklauf wurde das Jugendschutzgesetz überarbeitet, am 21. Juni 2002 passierte es den Bundesrat [4]. Computerspiele sollten ähnlich wie Kino- und Videofilme mit differenzierten Altersfreigaben gekennzeichnet werden. Alle Neuen Medien, beispielsweise Websites, sollen auf den Index gesetzt werden können und die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien auch ohne Antrag Medien aller Art auf eine Verbotsliste setzen können.

Ohne Indizierung durch die Bundesprüfstelle können "Trägermedien, die den Krieg verherrlichen, die Menschen in einer die Menschenwürde verletzenden Weise darstellen oder Jugendliche in geschlechtsbetonter Körperhaltung zeigen, mit weitreichenden Abgabe-, Vertriebs- und Werbeverboten belegt" werden, hieß es. 2003 wurde die Alterskennzeichnung von Computerspielen im Jugendschutzgesetz verankert und an die Obersten Landesjugendbehörden übertragen. Für den Handel wurde eine Freigabekennzeichnung rechtlich bindend.

Auch wurde das Waffengesetz verschärft. Das Mindestalter für Sportschützen zum Erwerb großkalibriger Waffen wurde auf 21 Jahre angehoben, Sportschützen unter 25 Jahren müssen eine medizinisch-psychologische Untersuchung absolvieren. Pumpguns wurden verboten.

Das Thüringer Schulgesetz wurde ebenfalls novelliert. Steinhäuser war im Oktober 2001 wegen eines gefälschten Attests der Schule verwiesen worden. Er war volljährig, deshalb wurden die Eltern nicht darüber informiert, sie konnten somit nicht wissen, dass ihr Sohn zwar täglich das Haus verließ, aber gar nicht zur Schule ging. Im Gegensatz zu anderen Bundesländern stand der 19-Jährige ohne Abschluss da, einen automatischen Realschulabschluss nach der 10. Klasse gab es damals nicht. Als Reaktion auf den Amoklauf konnten Schüler der Gymnasien ab 2003 auf eigenen Wunsch am Ende der 10. Klasse an einer Prüfung teilnehmen. Seit 2004 ist diese Prüfung in Thüringen Pflicht.

Quake, Screenshot aus der Remastered Version [5].

(Bild: Bethesda)

Zwei Jahre lang hatten fünf Juristen den Tathergang und die Hintergründe für den Untersuchungsbericht beleuchtet und auch Experten zurate gezogen. Dem damaligen Wissensstand der Medienwirkungsforschung nach glaubten "die Anhänger der Inhibitionstheorie an eine Hemmung, Anhänger der Simulationstheorie an eine Förderung der Aggressionsbereitschaft und die Anhänger der Habitualisierungstheorie gehen davon aus, dass derartige Spiele jedenfalls einen Abstumpfungseffekt bewirken". Die Kommission meinte, dass Letzteres kaum zu bestreiten sein dürfte.

Viel früher, einen Tag nach dem Amoklauf, standen aber schon Erkenntnisse parat, zum Beispiel aus dem Mund des damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber [6]. Der damalige Kanzlerkandidat von CSU und CDU meinte, die Gesellschaft brauche dringend eine Diskussion über Akzeptanz und Nachfrage von Gewalt und größere Intoleranz gegenüber deren Verherrlichung und sprach sich für ein Verbot von Gewaltdarstellungen aus. Auch Beck war damals als Vorsitzender der Rundfunkkommission der Länder schnell rege [7] und sprach sich für ein regelmäßig tagendes Forum gegen Gewalt in den Medien aus.

In Deutschland stand 2002 eine Bundestagswahl an, und so gerieten manche Politiker aneinander. Der bayerische Innenminister Günther Beckstein (CSU) warf Bundesfamilienministerin Christine Bergmann (SPD) Untätigkeit vor, weil sie eine Initiative aus dem Bundesrat zum Verbot von Gewalt-Videos und -Spielen nicht aufgegriffen habe. Bergmanns Parteikollege Bundesinnenminister Otto Schily warf daraufhin Beckstein vor, mit dem Amoklauf Wahlkampf betreiben zu wollen [8].

Seinerzeit war am meisten die Rede von "Counter-Strike", obwohl Steinhäuser das Spiel – wenn überhaupt – höchstens am Rande wahrgenommen hatte. Die Untersuchungskommission meinte "ausdrücklich klarstellen" zu müssen, "dass Robert Steinhäuser nicht mit einem Freund namens Steffen die Nächte durch Counter-Strike gespielt hat und Counter-Strike auch kein Dauerbrenner von Robert Steinhäuser gewesen" sei.

Am 26. April 2002 hatte Steinhäuser vielmehr von etwa 9 bis 10 Uhr morgens in seinem Zimmer "Quake" gespielt, "bei dem der Spieler den Ablauf aus der Ich-Perspektive sieht und mit einer virtuellen Waffe in der Hand auf alles schießt, was sich bewegt", wie es in dem Untersuchungsbericht heißt. EDV-Spezialisten des Thüringer Landeskriminalamts hatten es rekonstruiert. Möglicherweise hatte sich Steinhäuser so auf seine Taten eingestimmt, im Untersuchungsbericht werden Parallelen zwischen Ego-Shootern und dem Tathergang gezogen.

"Counter-Strike" aber war seinerzeit schon populär. Um es auf "LAN-Partys" zu spielen, schleppten junge Leute in Scharen ihre Desktop-Computer in Turnhallen. Drei Tage nach dem Amoklauf wurde denn die LAN-Party "Das Große Beben 5" in Erfurt abgesagt [9], dort sollte ein Counter-Strike-Turnier abgehalten werden. Auch sieben Jahre später, nachdem in Winnenden durch einen Amoklauf 16 Menschen starben, wurden LAN-Partys oder E-Sport-Events, wie sie dann hießen, abgesagt [10].

Aber die Ansicht, dass Egoshooter wie "Counter-Strike" Gewalttaten wie die von Erfurt und Winnenden fördern, die Täter trainieren, womöglich diese gar erst provozieren, wurde nicht einhellig geteilt. Knapp drei Wochen nach dem Amoklauf in Erfurt meinten Mitglieder der Jungen Union, die selbst eine LAN-Party auch mit "Counter-Strike" plante [11], solche Spiele könnten für die Vorfälle in Erfurt nicht verantwortlich gemacht werden. "Die Gründe hierfür liegen tiefer und sind im sozialen und familiären Umfeld zu suchen", hieß es seinerzeit.

Der Hirnforscher Manfred Spitzer, der generell skeptisch gegenüber moderner Informationstechnik ist und den Begriff der "digitalen Demenz" geprägt hat, meint, "Killerspiele" zu spielen, stumpfe gegenüber realer Gewalt in der mitmenschlichen Umgebung ab, die eigene Gewaltbereitschaft nehme zu [12]. Nach dem Amoklauf von Emsdetten im November 2006 forderte Spitzer für Gewaltmedien eine Extra-Steuer oder ein Verbot.

Für Befürworter von Spielen wie "Counter-Strike" steht die soziale Komponente im Vordergrund. Die Notwendigkeit, zusammen und koordiniert zu handeln, fördere den Teamgeist.

Szene aus dem Film "Clockwork Orange": Malcolm McDowell als Alexander DeLarge.

(Bild: Warner Bros.)

Die hitzigen Diskussionen über "Killerspiele" oder generell über Gewaltdarstellungen in Medien hallen heute aus der Ferne herüber, die Gewalttaten von Emsdetten 2006 und Winnenden 2009 ließen sie vorübergehend wieder aufleben. Vor 20 Jahren waren Gewaltorgien in Fernsehserien wie "Game of Thrones" oder "The Walking Dead" wohl noch nicht denkbar, heute flimmern sie allgemein zugänglich über die Monitore. Filme und Computerspiele zeigen dank weit fortgeschrittener Technik Gewalt wesentlich ausgefeilter als anno 2002. Gewalthaltige Computerspiele sind Bestandteil des "E-Sports", der sich in der Zwischenzeit etabliert hat, so mancher renommierte Sportverein hat sich dafür eine eigene Abteilung zugelegt.

Die Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK) räumt gegenüber heise online ein, dass "Darstellungen in den vergangenen Jahren realistischer geworden" sind, die Spiele setzten aber heute weniger auf "Shock Value" als Stilmittel. Entwicklerteams seien auch ohne diese Effekte erfolgreich darin, Aufmerksamkeit zu erregen. Gewalt-Exzesse seien dafür also kein "notwendiger" Bestandteil mehr.

Vielmehr würden Spiele heute oft nach dem "Service-Charakter" beurteilt, erläutert Irina Rybin von der USK: "Ein großes Universum, in dem viele kleine Elemente über lange Zeit mitverkauft werden – ein langfristiges, massentaugliches Produkt ist wichtiger als ein möglicher Hype-Erfolg." Daher stünden im Umgang mit digitalen Spielen heute vermehrt Themen im Vordergrund wie Zusatz-Käufe, Spielzeiten, Lootboxen, Mobbing oder die Sicherheit von privaten Daten.

Ein Eindruck, den Kollege Daniel Herbig bestätigen kann. Er meint auch, dass Gewalt seltener als Selbstzweck eingesetzt werde. Die Darstellung von Gewalt diene oft dem Gefühl von Realismus, manchmal solle sie sogar eine Botschaft vermitteln. Das Spiel "The Last of Us Part 2 [13]" beispielsweise enthalte brutale, kaum erträgliche Gewaltdarstellungen. Es sei aber kein stumpfes Ballerspiel, es liege darüber eine klug erzählte Geschichte zu dem, was Menschen sich gegenseitig antun. In "GTA 5 [14]" gebe es etwa eine Szene, in der Spieler aktiv einen hilflosen Gefangenen foltern müssen. Das sei so abstoßend inszeniert, dass sich die Spieler durchquälen müssen. So werde die Szene durch den Kontext zu einer "klaren und wirklich sehr eindringlichen Botschaft gegen Folter jeder Art. Das könnten Videospiele anders vermitteln als Filme, bei denen es nur Zuschauer gibt, meint Herbig.

Mit Ausnahmen, wie sich auch anlässlich des 80. Geburtstags des österreichischen Filmregisseurs Michael Haneke vor einem Monat einwenden ließe. Er behandelte das Thema "Gewalt" immer wieder in seinem Werk. In "Funny Games" treibt Haneke das Spiel mit der Gewalt und mit dem Publikum auf die Spitze. Die zwei Psychopathen in dem Film, die ein Ehepaar brutal überfallen und gefangenhalten, wenden sich in direkter Ansprache an das Filmpublikum, und zwar in seiner Rolle als solche: "Sie wollen doch auch wissen, wie es weitergeht, oder?"

In Hanekes Film "Bennys Video" (bis zum 30. April 2022 in der Arte-Mediathek zu sehen [15], Mindestalter 18 Jahre) geht es vordergründig um einen "wohlstandverwahrlosten" Jungen, der ein Mädchen emotionslos mit einem Bolzenschussgerät tötet und den Vorgang mit seiner Videokamera dokumentiert. Die Geschichte ist so schon abstoßend genug, obendrein versuchen Bennys Eltern, die Tat zu vertuschen. Gewalt wird hier zu einem extremen Vehikel für andere Botschaften: Benny geht es darum, mit seiner Kamera Kontrolle auszuüben, seinen Eltern darum, die Kontrolle nicht zu verlieren – als Metapher für eine gemutmaßte besondere Eigenschaft der östereichischen Landsleute, gerne etwas unter den Teppich zu kehren.

Mit dem Kinopublikum spricht auch Malcolm McDowell als Alexander DeLarge, Protagonist des Films "Clockwork Orange" des US-amerikanischen Filmregisseurs Stanley Kubrick, der vor fast genau 50 Jahren in die deutschen Kinos kam und heftige Kritik auslöste bis hin zu dem Vorwurf, darin würde Gewalt lediglich zum Selbstzweck ästhetisiert dargestellt. Kubricks Antwort darauf lautete: "Jeder ist von der Gewalt fasziniert. Schließlich ist der Mensch der unbarmherzigste Killer, der je auf Erden jagte."

In einem Gespräch mit dem französischen Filmkritiker Michel Ciment sagte Kubrick im Jahr 1972: "Kunst enthält von jeher Gewalt. Gewalt ist in der Bibel, bei Homer, bei Shakespeare anzutreffen. Meiner Ansicht nach ist die Frage, ob Film und Fernsehen in letzter Zeit mehr Gewalt zeigen und, falls dies zutrifft, welche Auswirkungen dies hat, weitgehend ein von den Medien hochgespieltes Thema." Diese schlachteten das Thema aus, weil es ihnen ermögliche, sogenannte schädliche Dinge von erhabener, moralisch überlegener Warte darzustellen.

Die Vorstellung, dass Kino- und Fernsehfilme einen ansonsten unschuldigen und guten Menschen in einen Verbrecher verwandeln könnten, sei zu vereinfachend, sagte Kubrick. Vielmehr beeinflussten sehr komplexe soziale, wirtschaftliche und psychologische Einflussgrößen das Verhalten des jeweiligen Verbrechers. Gewaltverbrechen würden regelmäßig von Menschen begangen, die schon vorher als asozial bekannt gewesen seien, oder aber durch plötzlich erkennbar werdende Psychopathen, die später als "so nette, ruhige, junge Menschen" beschrieben werden. Und das, obwohl später erkennbar werde, dass ihr gesamtes Leben sie unerbittlich auf einen grauenerregenden Augenblick zugeführt habe, an dem ein auslösendes Moment wirksam werde.

Zu Ciments Ansicht, Kubrick stelle in Clockwork Orange Gewalt so dar, dass eine distanzierende Wirkung entstehe, erwiderte der Regisseur: "Falls das stimmt, ist es wohl darauf zurückzuführen, dass die Geschichte sowohl im Roman als auch im Film von Alex erzählt wird." Manche würden behaupten, das mache Gewalt attraktiv, "meiner Ansicht nach ist dies völlig unzutreffend", sagte Kubrick vor 50 Jahren.

(Bild: USK)

"Zwar sind Darstellungen in den vergangenen Jahren auch aufgrund der sich verbessernden Technik realistischer geworden, gleichzeitig wachsen Kinder- und Jugendliche heute auch in veränderten Medienwelten auf, was entsprechend berücksichtigt werden muss", erläutert die USK.

Das Bundesjugendministerium ergänzt gegenüber heise online, "dass Kinder und Jugendliche ein deutlich höheres Maß an Medienkompetenz besitzen, welches bei der Beurteilung von Inhalten auch berücksichtigt werden muss". So beobachte das Jugendministerium bei der Altersfreigabe eine Weiterentwicklung der Bewertungsmaßstäbe. "Dabei ist auch ein entsprechender Wandel bei der Beurteilung von Gewaltinhalten feststellbar, der unter anderem auf gesellschaftliche beziehungsweise kulturelle Veränderungen in der diesbezüglichen Sensibilität sowie Gewöhnungseffekten zurückgeführt wird."

So "sind – neben dem Schutz von Kindern und Jugendlichen vor beeinträchtigenden Medien – die Aspekte der Befähigung und der Teilhabe die Grundpfeiler für einen modernen Jugendmedienschutz", erläutert Stefan Linz, Geschäftsführer der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) gegenüber heise online. Dort werden jährlich fast 12.000 filmische Inhalte vom Spielfilm bis zum Trailer, von der Serie bis zum Making-of auf Antrag geprüft und mit dem bekannten FSK-Label 0, ab 6, ab 12, ab 16 und ab 18 freigegeben.

Insgesamt gehe es darum, "Kinder und Jugendliche vor Inhalten zu schützen, die ihre Entwicklung oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit beeinträchtigen oder gefährden können", erläutert das Bundesjugendministerium. Digitale Medien gehörten zum Alltag von Kindern und Jugendlichen. Neben den vielfachen Chancen, die die Medien böten, würden sie auch Risiken für ein gutes Aufwachsen bergen. "Hierzu gehört unter anderem die Konfrontation mit Inhalten, die Gewalt beinhalten. Gewalt hat unterschiedliche Formen: Verletzungen, Tötungen und Zerstörungen durch Krieg oder Folter gehören dazu. Aber auch wüste Beschimpfungen, Beleidigungen oder Streitereien [16]."

Der befürchtete direkte Wirkungszusammenhang zwischen gewalthaltigen Spielen und realen Gewalthandlungen habe bis heute wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden können, erläutert die USK. "Im Gegenteil, neueste Studien wie zum Beispiel vom Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf (UKE) von 2018 kommen zu dem Ergebnis, dass Gewalt in Videospielen keinen Einfluss auf aggressives Verhalten hat." In der Tat kam das UKE nach einem Experiment mit 90 Erwachsenen [17] zu dem Ergebnis, "dass das Spielen von Gewaltspielen am Computer das Aggressionsverhalten der Spieler nicht nachhaltig oder langfristig beeinflusst".

"Auch wenn es zum Teil zu divergierenden Ergebnissen in der Forschung zur Wirkung von medialer Gewalt kommt, so lässt das Gesamtbild über den Forschungsstand die begründete Annahme zu, dass gewalthaltige Medieninhalte kurz- und langfristige negative Auswirkungen haben können," erläutert BzKJ-Direktor Sebastian Gutknecht gegenüber heise online. Personen, die gewalthaltige Inhalte konsumieren, zeigten aggressivere Kognitionen, Emotionen und Verhaltensweisen als diejenigen mit keiner oder geringer Rezeption. "Je nach Kontextualisierung und Darstellung von Gewalt in Filmen und Spielen kann diese dann insbesondere bezüglich gefährdungsgeneigter Jugendlicher zur Annahme beispielsweise einer verrohenden Wirkung und zur Indizierung führen", sagte Gutknecht.

Dabei betont der BzKJ-Direktor, dass es in der Forschung zu der Frage, welchen Effekt gewalthaltige Medieninhalte haben können, nicht um die medial häufig kontrovers andiskutierte Frage gehe, ob der Mediengewaltkonsum allein Rezipierende zu Gewalttätern und Gewalttäterinnen werden lässt. "Die Kernfrage ist vielmehr, ob der Konsum von Mediengewalt ein Risikofaktor ist, der zu aggressiven Reaktionen auf kognitiver, emotionaler und der Verhaltensebene führen kann und dies neben oder im Zusammenhang mit anderen Risikofaktoren, wie sie beim gefährdungsgeneigten Kind und Jugendlichen vorliegen können." Diese stellen den Ausgangspunkt für die Gefährdungseinschätzung im Rahmen einer Indizierungsentscheidung dar.

Bei Filmen und bei Spielen wird laut BzKJ auch berücksichtigt, ob die gewaltausübende Figur eine immanente Identifikations- und Vorbildfunktion haben kann, Empathie tragend ist, ob es distanzschaffende Momente in der Darstellung gibt, wie hoch die Gewaltexposition ist und ob es sich um fiktionale, realitätsferne Gewalt oder um realitätsnahe Taten in alltäglichen Lebensräumen, also natürliche Gewaltdarstellung mit alltäglich verfügbaren Gegenständen handele, sodass eine Übertragung der Szenarien in die eigene Lebensrealität leicht vorstellbar sei.

Aktuelle Reviews und Metaanalysen zeigten laut BzKJ, dass Nutzende von medialen Gewaltinhalten über verschiedene Studiendesgins hinweg häufiger aggressives, seltener prosoziales Verhalten sowie eine reduzierte Empathie zeigten, sie berichteten auch häufiger von allgemeinen aggressiven Einstellungen. Darüber hinaus unterstützten Langzeitstudien die Sozialisationshypothese: gewalttätige Inhalte im Laufe der Zeit prognostizieren Aggressivität. "Ebenfalls befürwortet wird die Wirkannahme dadurch, dass im internationalen Vergleich ähnliche Befunde mit vergleichbaren Wirkrichtungen und Effektstärken auftreten: Je mehr Mediengewalt konsumiert wird, desto mehr aggressives Verhalten besteht, auch bei jugendlichen Studienteilnehmenden", erläutert die BzKJ.

Mit Gewaltdarstellungen hat es die BzKJ in ihrer Prüfpraxis laut ihrem Direktor Gutknecht aber nur wenig zu tun, eher mit Inhalten aus den Bereichen Rassenhass, Diskriminierung und Nationalsozialismus. Nur sehr wenige bei der FSK und USK zur Kennzeichnung vorgelegte Filme und Spiele erhielten kein Alterskennzeichen. "Wenn sich die Selbstkontrolle nicht sicher ist, ob eine jugendgefährdende Wirkung angenommen werden kann, kann das Medium bei uns zu einer Zweifelsfallprüfung vorgelegt werden", sagte Gutknecht. Die meisten Überprüfungen von Filmen und Computerspielen seien gegenwärtig Listenstreichungsanträge, in denen auf Antrag der Rechteinhaberinnen und Rechteinhaber darüber entschieden wird, ob bereits indizierte Titel aus der Liste gestrichen werden können oder nicht. Dies müsse dann unter Beachtung der Erkenntnisse der Wirkungsforschung geschehen.

Junge Menschen betätigen sich als FSK-Prüfer.

(Bild: medienkompetenz-jugendschutz.de)

Den Stand der Forschung fasst Merten Neumann, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN), für heise online zusammen: "Um Theorien über Zusammenhänge zwischen dem Konsum gewalthaltiger Medien und Aggression nachzuweisen, wurden in den vergangenen Jahrzehnten unzählige Laborexperimente, Befragungsstudien und auch Langzeituntersuchungen vorgenommen."

Als Grundlage diente dabei ein theoretisches Modell der Psychologen Craig Anderson und Brad Bushman. "Aus dem Modell lässt sich ableiten, dass der Konsum von gewalthaltigen Medien auf verschiedensten Wegen die Auftretenswahrscheinlichkeit für aggressives Verhalten sowohl kurzfristig – zum Beispiel durch eine erhöhte Anspannung oder die Aktivierung von aggressiven Gedankeninhalten – als auch langfristig zum Beispiel durch Desensibilisierung gegenüber Gewalt oder die Belohnung von Gewalt im Spiel erhöhen sollte", erläutert Psychologe Neumann vom KFN. Dessen früherer Direktor, der Kriminologe Christian Pfeiffer, hatte bei mancher Gelegenheit vor bestimmten Computerspielen gewarnt [18].

"Dabei haben sich auch im wissenschaftlichen Diskurs mitunter verhärtete Fronten gebildet, die eine objektive Einschätzung erschweren können", schildert Neumann. Die hitzige Debatte habe aber auch dazu geführt, dass zu dem Thema ungewöhnlich viele wissenschaftliche Ergebnisse publiziert worden seien. In den meisten Studien lasse sich ein Einfluss des Konsums gewalthaltiger Videospiele auf die Auftretenswahrscheinlichkeit von Aggression nachweisen. "Wichtig ist aber, dass dieser Zusammenhang oft nur recht klein ist", betont Neumann.

Zudem ließen sich in Experimentalstudien stärkere Zusammenhänge identifizieren als in Befragungsstudien und Langzeituntersuchungen. Das habe vermutlich zwei Gründe: "Erstens werden in Experimentalstudien oft aggressive Verhaltensweisen betrachtet, die nur bedingt mit Aggression in Alltagssituationen gleichzusetzen sind", erklärt Neumann. "Zweitens beforschen Experimentalstudien vornehmlich den kurzfristigen Zusammenhang zwischen dem Medienkonsum und der Aggression, während gerade bei Langzeituntersuchungen eher langfristige Prozesse im Vordergrund stehen."

Es sei also davon auszugehen, dass der Konsum von gewalthaltigen Videospielen zwar kurzfristig das Aggressionspotential leicht erhöhen könne, dies sich aber nur selten in echter Aggression äußert. Auch werde deutlich, dass Studien kleinere Zusammenhänge berichten, wenn sie alternative Erklärungsfaktoren für Aggression berücksichtigen. Dazu gehören Persönlichkeitseigenschaften wie Gewaltaffinität oder Impulskontrolle, Aspekte der Sozialisierung oder des sozialen Umfeldes. Als Beispiele führt Neumann gewalthaltige Erziehung und kriminelle Freunde an.

"Dies deutet darauf hin, dass der Konsum von gewalthaltigen Videospielen im Vergleich zu anderen Erklärungsfaktoren nur einen vernachlässigbaren Einfluss auf die Auftretenswahrscheinlichkeit von Aggression zeigt", erläutert Neumann.

Es werde also davon ausgegangen, dass der Konsum von gewalthaltigen Medien allein in der Regel nicht direkt zu aggressivem Verhalten führen kann. Kombiniert mit anderen Faktoren wie unkontrollierter Mediennutzung und aggressionsförderlichen Persönlichkeitseigenschaften könne er aber möglicherweise problematische Auswirkungen entfalten.

"Das Mediennutzungsverhalten ist oft ein kleines Rädchen im Erklärungsmodell für aggressive Verhaltensweisen", resümiert Neumann. Nach dem heutigen Stand sei die Annahme nicht haltbar, dass die Inhalte von Medien spurlos an uns vorübergehen, aber ebenso wenig die Meinung, dass "Killerspiele" der wichtigste auslösende Faktor für Amoktaten oder andere schwere Gewaltstraftaten seien.

"Für den Jugendmedienschutz bedeutet die Diskussion über mögliche Zusammenhänge zwischen realer und medial inszenierter Gewalt eine grundsätzliche wie konkrete Herausforderung", sagte FSK-Geschäftsführer Linz. Dabei seien vor allem zwei Fragen relevant: Wie sehen und verarbeiten Kinder und Jugendliche unterschiedliche Arten filmischer Gewalt? Wo lassen sich Gewaltwirkungsrisiken ausmachen, die den Entwicklungszielen von Eigenverantwortung und Gemeinschaftsfähigkeit nach Paragraph 14, Absatz 1 des Jugendschutzgesetzes [19] zuwiderlaufen?

Dabei stehen laut Linz Fragen im Vordergrund wie: Welche Gewaltformen werden im Film thematisiert? Wie sind Täter- und Opferrollen dargestellt? Aus wessen Perspektive wird ein Gewaltvorgang gezeigt? In welchem Kontext findet Gewalt statt? Spielen die Folgen von Gewaltanwendung eine Rolle? Wie sind Gewaltvorgänge visualisiert?

Allerdings gibt es laut Linz kaum Studien, die die Wirkung von vollständigen Filmen und nicht nur von Ausschnitten oder kürzeren Clips auf Kinder und Jugendliche erforschen. Um dies herauszufinden und auch, wie Heranwachsende selbst die Wirkung von Filmen einschätzen, betreibt die FSK seit 2003 zusammen mit den Obersten Landesjugendbehörden die Projektreihe "Medienkompetenz und Jugendschutz [20]", an der bisher mehr als 1700 Heranwachsende beteiligt waren. Unter anderem schlüpften Mädchen und Jungen in die Rolle von FSK-Prüferinnen und Prüfern und äußern sich zu den Wirkungen des Films auf sie selbst und welche sie bei anderen vermuten, beispielsweise jüngeren Menschen.

Eine Erkenntnis aus der FSK-Projektreihe: Die unterschiedlichen Reaktionen von 12- bis 16-jährigen Kindern auf die eingesetzten Filme zeigten, dass die meisten durchaus in der Lage gewesen seien, sich vom Gesehenen zu distanzieren und problematische Inhalte zu verstehen. "Sie setzten sich mit den inhaltlichen Kontexten auseinander, in denen Gewalt eine Rolle spielt, vollzogen Entwicklungen der Protagonisten nach und brachten ihr Genrewissen mit ein. Auf drastische und unerwartete visuelle Umsetzung von Gewalt reagierten sie teilweise ablehnend, konnten dies aber problematisieren."

Das treffe aber nicht auf alle Kinder gleichermaßen zu. Entscheidend für die Rezeption seien auch der persönliche Hintergrund und die unterschiedliche Medienerfahrung der Mädchen und Jungen, heißt es aus der Projektreihe Medienkompetenz und Jugendschutz.

Eine "einfache" These zur Gewaltwirkung gibt es nicht, lautet ein Fazit aus einem Projekt mit 16- bis 18-Jährigen. Grundsätzlich gelte jedoch: Je ausführlicher der Tathergang und die Schädigung der Opfer, die Folgen der Gewalt und die handelnden Protagonisten dargestellt werden, umso eher sei es den Rezipienten möglich, eine kritische und ethische Haltung zum Gezeigten zu entwickeln.

"Erfahrungen von Gewaltsituationen und Konflikten gehören zum Alltag der Befragten", sagt Linz. Die Medienangebote, die sich mit Gewalt auseinandersetzen, träfen auf eine intensive Diskussionskultur über die Frage der Anwendung von Gewalt in Konfliktsituationen. "Die Jugendlichen haben in einem hohen Maß den Wert von Gewaltlosigkeit verinnerlicht, einige waren aber zugleich der Meinung, dass sich Gewaltausübung nicht immer vermeiden lässt."

"Mediale Inhalte sind daher auch nicht monokausal Ursache für negatives Verhalten, aber sie können – unter bestimmten Voraussetzungen – verstärkend wirken", schließt Linz aus den bisherigen Forschungsbemühungen seiner FSK. "Monokausal" könne auch keine Erklärung auf die Frage sein, wie es dazu kommen konnte, dass Robert Steinhäuser 16 Menschen und anschließend sich selbst tötete, heißt es in dem Untersuchungsbericht der "Kommission Gutenberg-Gymnasium". Vielmehr seien hier mehrere Faktoren gebündelt.

Steinhäuser wurde altersgerecht eingeschult, heißt es darin. Als er 12 Jahre alt war, entschieden die Eltern, ihn auf das Gutenberg-Gymnasium zu schicken. Seine Meinung dazu beachteten sie nicht. In der Schule zeigte er sich antriebsschwach, seine Leistungen verschlechterten sich zunehmend. "Es ist anzunehmen, dass Robert Steinhäuser im Gymnasium überfordert war", schreibt die Kommission. Elternhaus und Schule hätten dazu keine konstruktive Problemlösung angeboten. Am Ende der 10. Klasse scheiterte Steinhäuser mit seinem Versuch, einen externen Realschulabschluss zu bekommen.

Ab diesem Zeitpunkt empfand Steinhäuser das schulische Versagen immer stärker als sehr kränkend und enttäuschend, vermutet die Kommission. Er war auch nicht in der Lage, seine desolate Situation eigeninitiativ zu ändern, aktiv die Richtung zu wechseln. Er übernahm nicht die Verantwortung für sich und sein Fehlverhalten, sondern schrieb Ursachen für sein Versagen anderen zu. Die Familie setzte sich mit ihm zu wenig tiefgründig auseinander, Probleme und Konflikte wurden nicht ausreichend klar kommuniziert und offen bewältigt.

Robert Steinhäuser hatte sich zu einer Persönlichkeit entwickelt, die in vielen Bereichen kaum oder keine Kompetenzen erworben hatte. Er lernte zu wenig Probleme ausreichend wahrzunehmen und zu bewältigen oder andere um Hilfe zu bitten. Auch konnte er nicht konstruktiv mit Kritik umgehen und aus Fehlern lernen. "Stattdessen bildete er eine Art kompensatorischen Größenwahn aus", heißt es in dem Bericht.

Einen weiteren Tiefpunkt erlebte Steinhäuser, als er am Ende der 11. Klasse im Fach Informatik die Note 6 bekam – er musste seinen Traum aufgeben, das Fach zu studieren – und seine Eltern entschieden, dass er die Klasse wiederholen sollte. Robert wurde aus seinem Kurz- oder Klassenverband herausgelöst. Diese Situation stand im Gegensatz zu dem von ihm nach außen vermittelten Selbstbild, andere Menschen nahmen ihn als cool und mitunter arrogant wahr.

Robert Steinhäuser kapselte sich immer mehr ab, damit er nicht von anderen abhängig war und keine Kränkungen mehr erfuhr, schreibt die Kommission. Seit seinem 14. Lebensjahr saß er viel vor Videofilmen und Computerspielen, die oft Gewalt zeigten. Er zog sich immer weiter in eine Scheinwelt zurück, als Gegenpol zur Welt voller Frustrationen. Hier, in Fachliteratur und auch im realen Leben beschäftigte sich Steinhäuser immer mehr mit dem Gebrauch von Schusswaffen, er trat in einen Schützenverein ein und absolvierte Schießübungen.

Am Ende seines zweiten Durchgangs der 11. Klasse wies Robert Steinhäuser erneut ein mangelhaftes Jahreszeugnis und dazu viele Fehlzeiten auf. Wegen eines gefälschten Attests wurde er von der Schule ausgeschlossen. Steinhäuser unternahm nur einen halbherzigen Versuch, auf ein anderes Gymnasium zu wechseln. Gegenüber seiner Familie, Freunden und Bekannten verheimlichte er das Ende seiner Schulkarriere, legte ein gefälschtes Halbjahreszeugnis vor und täuschte vor, 2002 das Abitur zu absolvieren. "Dabei überschritt er irgendwann den Punkt, ab dem es jedenfalls aus eigenem Antrieb kein Zurück zu einem Eingeständnis seines Scheiterns mehr geben konnte", heißt es in dem Untersuchungsbericht.

Steinhäuser erwarb eine Waffenbesitzkarte, so konnte er erstmals wieder ein durch eine eigene Leistung herbeigeführtes Erfolgserlebnis verspüren, vermutet die Kommission. Bewusst oder unbewusst verschaffte sich Steinhäuser die Voraussetzungen, um Macht- und Gewaltmittel in seine Hände zu bekommen.

Durch Taschengeld seiner Eltern und Zuwendungen der Großeltern hatte Steinhäuser 3500 Mark angespart, so heißt es in dem Untersuchungsbericht. Nach heutiger Kaufkraft umgerechnet knapp 2500 Euro. Von diesem Geld kaufte er sich ohne Wissen seiner Eltern zwei Schusswaffen, die er später mit in das Gutenberg-Gymnasium nahm, an dem symbolträchtigen Tag der Abiturprüfungen des 26. April 2002.

Abbildung aus dem Untersuchungsbericht der Kommission Gutenberg Gymnasium. Steinhäuser deponierte zunächst Munition in einer Toilette des Gymnasiums, dann erschoss er die ersten beiden Menschen.

(Bild: Freistaat Thüringen)

Nachdem Robert Steinhäuser von etwa 9 bis 10 Uhr "Quake" gespielt hat, verlässt er das Elternhaus und macht sich auf zum Gutenberg-Gymnasium. Dort legt er in einer Toilette im Erdgeschoss ein Munitionsdepot an. Gegen 11 Uhr gibt Robert Steinhäuser im Sekretariat drei tödliche Schüsse ab, der erste Schuss traf die stellvertretende Schuldirektorin, zwei weitere die Sekretärin. Steinhäuser eilt den Treppenaufgang eine Etage höher und tötet auf dem Flur mit drei Schüssen einen Lehrer, der gerade eine Tür aufschließen will. Steinhäuser wendet sich nach rechts und geht in einen Klassenraum, dessen Tür offensteht. Dort kommt ihm ein Lehrer entgegen, auf den Steinhäuser zweimal abfeuert und ihn tötet. Steinhäuser geht wieder auf den Flur und tötet mit vier Schüssen einen Physiklehrer.

Steinhäuser eilt weiter über die Treppe ins 2. Obergeschoss. "Er schaut in die Räume rechts im Gang, zunächst in das leere Zimmer 206, dann in Raum 205. […] Hier sind bereits Kinder aus der 7. Klasse, die in der fünften Stunde Französischunterricht haben sollen", heißt es im Untersuchungsbericht. "Darunter sind aber auch einige andere aus der 9. Klasse, die aus dem 1. Obergeschoss nach den Schüssen auf die Physiklehrer hochgerannt waren und sich verstecken wollten."

Steinhäuser zieht weiter den Flur im 2. Obergeschoss entlang. Hinter der Tür zum Nordflur schießt er fünfmal auf eine Lehrerin. Er geht weiter in Raum 11, dort steht eine Lehrerin hinter einem aufgeklappten Teil der Tafel. Steinhäuser klappt die Tafel zu und schießt fünfmal auf sie, vor den Kindern der Klasse 8 b.

Im 3. Obergeschoss öffnet Steinhäuser die Tür zu Raum 307. Dort spricht eine Lehrerin gerade mit einigen Schülern. Steinhäuser durchquert die Klasse und schießt achtmal auf sie, sechs Kugeln töten die Lehrerin, zweimal trifft er daneben. Steinhäuser entnimmt das leere Magazin, das 31 Patronen fasst, lässt es zu Boden fallen und steckt ein neues Magazin in die Waffe. "Dieses neue Magazin wird im weiteren Verlauf eine Spur von Hülsen hinterlassen, die den Weg markieren, den der Täter weiter nimmt", heißt es in dem Bericht.

Zurück auf dem Flur geht Steinhäuser in das Durchgangszimmer 304, in dem eine Referendarin die Klasse 5 b unterrichtet. Steinhäuser schießt im Vorbeigehen viermal auf sie, dann verlässt er den Raum. Gleichzeitig öffnet eine Lehrerin vor ihm die Tür zu Raum 303, in dem sie die Biologieklausuren für die Abiturprüfung beaufsichtigt. Steinhäuser zielt aus nächster Entfernung direkt auf die Stirn zwischen ihre Augen und drückt einmal ab.

Steinhäuser geht weiter zu Raum 301, in dem Klasse 10 b in Biologie unterrichtet wird. Dort stößt er einen Jungen beiseite und schießt viermal auf den auf ihn zukommenden Lehrer. Die Schüler, die daneben stehen, werden mit Blut bespritzt. Eine Referendarin, die aus dem 4. Stock zurückgekehrt ist, verbarrikadiert sich mit Schülern in einem Vorbereitungsraum. Steinhäuser verlässt die Etage über die Treppe nach unten.

Im 2. Obergeschoss zurückgekehrt sieht Steinhäuser im Chemieraum 201 eine Lehrerin, die vor ihm in Richtung einer Durchgangstür zum benachbarten Raum flieht. Vom Flur aus schießt er zweimal auf sie, noch einmal von der Eingangstür aus und schließlich noch zweimal an der Durchgangstür auf die inzwischen gestürzte Frau, steigt über sie hinweg in den Nachbarraum, dreht sich um und gibt noch einen Schuss auf die Lehrerin ab.

Steinhäuser wechselt erneut das Magazin. "Nachdem der Täter bei seinem vorherigen 'Durchgang" in diesem Bereich im Zimmer 208 die Lehrerin wahrscheinlich nicht gesehen hat, hat diese das Klassenzimmer von innen verschlossen. Nicht alle Schüler der Klasse 8 c haben den Täter oder eines seiner Opfer draußen im Flur gesehen, nicht allen ist die Gefahr in ihrem ganzen Ausmaß präsent. R.M. will eine Zigarette rauchen gehen und steht an der Tür. Er murrt, weil ihn die Lehrerin nicht hinauslässt", schildert der Bericht. "Da rüttelt es von außen an der verschlossenen Tür, die Klinke wird gedrückt. Im nächsten Moment wird die Tür von außen 8 Mal durchschossen." Diese Schussserie tötet den 15-jährigen R.M. und eine 14-jährige Mitschülerin.

Steinhäuser verlässt das 2. Obergeschoss über die Treppe nach unten zurück ins Erdgeschoss und auf den Schulhof. Dort verfolgt er eine Lehrerin, die sich um die Evakuierung der Schüler gekümmert hatte. Steinhäuser trifft sie mit fünf Schüssen, einer davon ein Kopfdurchschuss aus nächster Nähe. Während dieses Mordes trifft der erste Funkstreifenwagen der Polizei ein, Steinhäuser wechselt ein letztes Mal das Magazin, aus diesem gibt er auf dem Schulhof noch vier Schüsse ab.

Steinhäuser bemerkt einen Polizisten, der Schüler in seiner Nähe dazu bewegen will, in das Gebäude zurückzukehren. Er schießt dreimal in seine Richtung, der Polizist gibt einen Schuss ab, mit dem er Steinhäuser verfehlt. Steinhäuser geht in das Gebäude zurück und tötet einen anderen Polizeibeamten, der inzwischen in einem zweiten Streifenwagen eingetroffen ist, mit vier Schüssen. Danach geht Steinhäuser in das 1. Obergeschoss. Dort trifft er einen Auszubildenden, nimmt erstmals seine Sturmmaske ab und sagt, er sei mal von der Schule verwiesen worden.

Wieder im 2. Obergeschoss angekommen trifft Steinhäuser auf einen weiteren Lehrer, auf den er seine Waffe richtet. Nach einer Zeit des Augenkontakts zwischen ihnen sagt Steinhäuser: "Herr H., für heute reicht's." Steinhäuser legt seine Waffe auf ein Regal, der Lehrer bittet ihn zu einem Gespräch in Raum 111, macht dafür die Tür weit auf, stößt ihn hinein, schließt die Tür und verriegelt sie.

Zu diesem Zeitpunkt war der "Killer-Akku" des Robert Steinhäuser bereits ins Stottern geraten, heißt es in dem Untersuchungsbericht, vielleicht auch schon leer. Nachdem Steinhäuser den Polizisten ermordet hatte und wieder durch das Haus gezogen war, habe er kein weiteres, seiner ursprünglichen "Lehrer-Programmierung" entsprechendes Opfer mehr wahrgenommen.

"Das nun bestehende Szenario stimmte nicht mehr mit den bei den Egoshooter-Spielen am Computer eingeübten Tötungsfrequenzen überein. […] Der virtuell antrainierte und vorher noch real ausgeübte Tötungsrhythmus war aus dem Takt geraten", heißt es in dem Bericht. Angesichts der anrückenden Polizei kehrte er nicht zu dem Munitionsdepot zurück, das er vor seinen Mordtaten in einer Toilette im Erdgeschoss angelegt hatte. "Er befand sich auf dem Rückzug in die Lebensrealität des sich verletzt fühlenden Menschen Robert Steinhäuser." Der "Killer-Akku" reichte nur noch für ihn selbst.

(anw [21])


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