Learning by Coding: Wie die Zukunft der IT-Ausbildung aussieht

Reicht die KI- und Entwickler-Ausbildung in Deutschland, um den Fachkräfte­bedarf auch in Zukunft zu decken? Firmen und Bildungseinrichtungen gehen neue Wege.

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Die Coding-Schule 42 geht bei der Ausbildung von Programmierern radikal neue Wege.

(Bild: 42 Heilbronn gGmbH)

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Inhaltsverzeichnis

"Künstliche Intelligenz ist ein Schlüssel zur Welt von Morgen“, schreibt die Bundesregierung in ihrer fortgeschriebenen KI-Strategie. Was groß klingt, ist im Alltag eine echte Herausforderung. Denn um KI produktiv anzuwenden, KI-Anwendungen zu entwickeln und die Grundlagen der Künstlichen Intelligenz voranzutreiben, braucht es gut ausgebildete Fachkräfte, Wissenschaftler, Entrepreneure. Aber die fallen nicht einfach so vom Himmel, sondern müssen aus- oder weitergebildet werden. Stimmen die Bedingungen in Deutschland, um diese Aufgabe zu stemmen?

Die USA verfügt "über den weltweit größten Nachwuchspool mit schätzungsweise ca. 10.000 Masterstudenten und Doktoranden, die jährlich an computerwissenschaftlichen Instituten mit aktiver KI-Forschung graduieren", schreibt die Konrad-Adenauer-Stiftung in einem aktuellen Vergleich nationaler Strategien zur Förderung von Künstlicher Intelligenz. In der Bundesrepublik beschäftigen sich nach einer Erhebung des Branchenverbandes Bitkom 220 Professoren mit Künstlicher Intelligenz. Um 10.000 Absolventen pro Jahr zu "produzieren", müsste jeder von ihnen rein rechnerisch 50 Masterstudierende oder Doktoranden betreuen.


Dieser Artikel stammt aus Ausgabe 04/2021 MIT Technology Review (als pdf bestellen). Das Heft beschäftigt sich als Sonderheft mit der Zukunft der Arbeit.


Immerhin: In ihrer KI-Strategie hatte die vorherige Bundesregierung 2018 beschlossen, 100 neue KI-Professuren einzurichten. Laut Bundesforschungsministerium wurden diese bis Mai 2022 besetzt. Darüber hinaus sei "an den KI-Kompetenzzentren seitens der beteiligten Hochschulen die Einrichtung von 30 zusätzlichen KI-Professuren vorgesehen", ergänzt das Ministerium. Welche Professuren bereits eingerichtet sind, darüber informiert das BMBF ebenfalls in der Mitteilung.

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Aber Kristian Kersting, Professor für Künstliche Intelligenz und Maschinelles Lernen an der TU Darmstadt weist darauf hin. "Es ist gut, dass es jetzt viele Bewerbungen [und Besetzungen] gibt, aber das hat auch Nachteile. Wir haben jetzt ein Fenster für neue Stellen, das für zwei bis drei Jahre offen ist, dann ist das Fenster wieder zu – und die Stellen sind dauerhaft besetzt", sagt Kersting. "Ich glaube, wir müssen über neue Modelle für Professuren nachdenken. Wir brauchen so etwas wie Entrepreneurs in Residence an den Universitäten." Das sind Leute, die die Hälfte ihrer Arbeitszeit an den Unis forschen und lehren und die andere Hälfte in ihrem Unternehmen tätig sind.

Weil das traditionelle Studium offenbar nicht hinreichend schnell KI- und Software-Entwickler produziert, entstehen seit einigen Jahren private Coding-Akademien. Der jüngste Zuwachs dieser Riege residiert in der ehemaligen Markthalle von Wolfsburg. Nach dem Vorbild der gemeinnützigen École 42 aus Frankreich entsteht dort mit Unterstützung von Volkswagen "eine Mischung aus Hogwarts und dem MIT Media Lab gepaart mit Ferdinand Porsches Innovationsgeist" – zumindest wenn man der Eigenwerbung glauben darf. Tatsächlich ist der Ansatz der Schule zumindest ungewöhnlich: 42 Wolfsburg soll ganz ohne Vorlesungen und Seminare funktionieren. Die Schule, wie ihre mittlerweile 33 weltweiten Ableger, nimmt auch Bewerber ohne Abitur. Und die Studierenden lernen ausschließlich in selbst organisierten Projekten.

Kristian Kersting von der TU Darmstadt plädiert für mehr Zusammenarbeit zwischen Universitäten und Unternehmen und für einen besseren Austausch von Ideen.

(Bild: Katrin Binner/ TU Darmstadt)

Der zur Zeit wohl radikalste Ansatz in der IT-Ausbildung ist das geistige Kind des Internet-Unternehmers Xavier Niel. Niel, der aus einem Pariser Arbeiterhaushalt stammt, wurde dank aggressiver Preispolitik und innovativer Services mit seinem Telekommunikationsunternehmen Illiad zum neuntreichsten Mann Frankreichs. 2013 beschloss Illiad, der nie ein Studium abgeschlossen hatte, auch anderen eine Chance für solch einen Aufstieg zu geben, und gründete für geschätzte 70 Millionen Euro die École 42.

Mittlerweile interessieren sich auch andere für die Idee: Volkswagen fördert den Verein 42 Wolfsburg, der die Schule in Wolfsburg betreibt, mit 3,7 Millionen Euro – zunächst für das erste Jahr. Und Microsoft gab Anfang April 2021 bekannt, dass sich das Unternehmen "unter anderem an der Entwicklung des Curriculums für automobile Software und Mobilitäts-Ökosysteme beteiligen" will. Darüber hinaus will der Software-Konzern die Schule "mit Hard- und Software sowie finanziell fördern." In welcher Höhe gab das Unternehmen jedoch nicht bekannt. Zu den weiteren Partnern zählen Google, Porsche und die Red Hat Academy.

Die etwa dreijährige Ausbildung ist zwar nicht staatlich anerkannt, kann also keinen formalen Abschluss oder ein Diplom vergeben. Die Schule wirbt allerdings mit einer sehr hohen Vermittlungsquote unter ihren Absolventen: "Nach dem ersten Praktikum kriegen zwei Drittel aller Studierenden ein erstes Jobangebot", sagt Max Senges, Rektor von 42 Wolfsburg. "Nach dem Abschluss sind es weit über 90 Prozent."

Was macht das Konzept so erfolgreich? Zum einen wird bei der Bewerbung gnadenlos ausgesiebt: Alle Studienbewerber von 42 Wolfsburg machen einen Online-Test, in dem vor allem algorithmisches Denken gefragt ist. Programmierkenntnisse sind nicht erforderlich. Wer besteht, wird zu einem vierwöchigen Testlauf nach Wolfsburg eingeladen, dem sogenannten "Piscine".

Max Senges, CEO und Rektor von 42 Wolfsburg, vor dem Sitz der Coding-Akademie.

(Bild: 42 Wolfsburg)

Im "Schwimmbecken" erlernen Bewerber und Bewerberinnen die Grundlagen des Programmierens und müssen diese in Projekten anwenden. Was nach netter pädagogischer Einführung klingt, wird von anderen gnadenloses Bewerbungs-Bootcamp genannt. Von rund 6.000 Bewerbern der ersten Runde werden jeweils 150 für ein Piscine zugelassen. Nach den Abschlusstests und Evaluierung von drei Piscines im Februar, März und April werden dann insgesamt 150 Studierende zugelassen – also pro Piscine etwa ein Drittel.

"Wir sind nicht elitär", wehrt Senges ab. "Wir haben Geflüchtete aus Syrien, Schulabbrecher, Leute mit Prüfungsangst, Arbeitslose – alles Mögliche." Tatsächlich ist die Mischung für IT-Verhältnisse recht bunt: 27 Prozent der Studierenden sind Frauen, 50 Prozent stammen aus Deutschland, das Alter liegt zwischen 18 und 57. "Die Selektion beruht nicht auf Vorwissen, sondern nur auf dem richtigen Mindset", sagt Senges. "Es geht ja auch darum, festzustellen, ob diese Art von Lernen was für Dich ist oder nicht."

Mindset – das klingt nach der Sprache des Silicon Valley. Dahinter verbirgt sich die Arbeit der US-Psychologin Carol Dweck. Sie ist überzeugt, dass das eigene Selbstbild entscheidend für die Fähigkeit zu lernen verantwortlich ist. Ein Mensch mit einem "fixed Mindset", der von sich glaubt, bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten zu besitzen, beschränke sich selbst. Ein Mensch mit einem "Growth Mindset" hingegen glaube daran, sich weiter entwickeln zu können. "Ich werde mit Sicherheit kein guter Opernsänger werden", sagt Senges. "Aber ich bin überzeugt, dass wir alle lernen können, passabel zu singen".

Lernen in der Coding-Schule.

(Bild: 42 Wolfsburg)

Neben dieser Fähigkeit, an die eigene Entwicklungsfähigkeit zu glauben, müssen die Absolventen von 42 vor allem zwei Eigenschaften mitbringen: Sie müssen kommunizieren können, und sie müssen Frust vertragen. Kommunikation ist wichtig, weil es keinen begleitenden theoretischen Unterricht gibt, keine Tutoren und hilfreichen Dozenten, die einem bei schwierigen Problemen Ratschläge geben. "Wenn jemand etwas nicht weiß, muss er in der Lage sein, sich dieses Wissen zu beschaffen." "Peer Learning" nennt sich das bei 42 – selbst organisiertes Lernen mit Kollegen in einer Projektgruppe. Selbst die Beurteilungen müssen sich die Studierenden untereinander selbst geben – so lernen sie, Tests zu entwickeln und die Arbeit anderer fair zu beurteilen.

"Eine gewisse Resilienz" hingegen ist nötig, weil die über 100 Projekte, die die Studierenden im Lauf ihrer Ausbildung bearbeiten, bewusst darauf ausgelegt sind, sie an ihre Grenzen zu treiben. "Scheitern ist wichtig", sagt Jan Behrenbeck, pädagogischer Leiter von 42. "Fehler passieren. Man hat nur einmal falsch geklickt – vielleicht die falsche Datei hochgeladen. Das kann extrem emotional werden. Man muss die Erfahrungen machen, dass etwas auch mal nicht klappen kann – und lernen, damit umzugehen."

Könnte so die Zukunft der IT-Ausbildung in Deutschland aussehen? Selbst organisiert, an Projekten orientiert, mit möglichst niedrigen Einstiegshürden? Jörn Loviscach, Professor an der Fachhochschule Bielefeld, hat Zweifel. Der ehemalige stellvertretende Chefredakteur von c’t unterrichtet mittlerweile Mathematik und Informatik für Ingenieurstudenten, hat mehrere tausend Youtube-Videos erstellt und fünf MOOCs (Massive Open Online Courses) konzipiert.

"Der Trick ist einfach, dass die wahnsinnig aussortieren", sagt Loviscach mit Blick auf 42. Das gelte auch für ähnliche Projekte wie die private "CODE University of Applied Sciences" in Berlin. "Wenn ich nur die Besten der Besten habe, kann ich das auch. Aber mit den durchschnittlichen Studierenden? Keine Chance. Die muss man eng betreuen – das ist vor allem eine Frage des Wollens und Durchhaltens."

Von der Idee, die Studierenden alles selbst organisiert lernen zu lassen, ist Loviscach wenig überzeugt. "Ohne Curriculum hat man riesengroße Löcher. Dann kopieren sich die Leute was aus Stackoverflow zusammen, haben aber keine Ahnung, wie der Code eigentlich funktioniert". Auch die These, dass Studierende in praktischen Projekten besser und schneller lernen würden, zieht er als "nicht hinreichend empirisch belegt" zumindest in Zweifel. "Sofort mit praktischen Projekten zu starten, heißt, die Studierenden in einen Dschungel zu werfen, in dem sie nicht wissen, was der Tiger ist und was die Vogelspinne. Das führt – wenn man nicht sehr gut damit umgehen kann – zu massivem ‚Cognitive Overload‘."

Antonio Krüger, Geschäftsführer des DFKI, ist dafür, auch Kinder schon für den Umgang mit KI vorzubereiten.

(Bild: Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz)

Kristian Kersting dagegen ist vom Nutzen der Projektarbeit schon eher überzeugt. "Die Leute denken immer, das was in der KI erforscht wird, ist zehn bis 20 Jahre weg von den Anwendungen. Das ist nicht der Fall", sagt Kersting. "Da gibt es ganz viel Empirie. Deswegen ist Projektarbeit ganz wichtig. So was wie Overfitting – da muss man einfach mal selbst reinlaufen, um zu verstehen, wo das Problem liegt", sagt Kersting. Übersetzt heißt das: Wer nur das Lehrbuch liest, kann leicht auf die Idee kommen, dass immer mehr Daten ein KI-Modell immer genauer machen. Doch in der Praxis verhält sich die Software oft anders – die Resultate werden ab einem bestimmten Punkt schlechter, nicht besser – je nachdem, wie die Daten aussehen.

Die KI-Ausbildung in Deutschland könne aber ohnehin nicht ausschließlich über die Universitäten laufen, sagt Kersting. "Wir haben ein Kooperationsprojekt mit Hochtief gemacht. Die haben 10.000 Mitarbeiter und gefragt, ob wir die nicht in Sachen KI ausbilden könnten", sagt Kersting. "Aber im Hörsaal geht das nicht. Das skaliert nicht. Ich habe im Moment kein Konzept dafür, aber es wird wohl eine Kombination aus Online- und Offline-Kursen zusammen mit Projekten."

Den Wissenstransfer zu Unternehmen hat auch Antonio Krüger, Geschäftsführer des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI) als zentrales Problem identifiziert. "Wir haben diese tollen mittelständischen Unternehmen mit hoher technischer Kompetenz, sagt Krüger. "Aber häufig sind die völlig entkoppelt von akademischer Entwicklung. Neues Wissen holen die sich normalerweise über neue Leute. Aber das geht nur mit permanenten Wachstum". Ein Ausweg bestünde darin, gemeinsame Projekte aufzusetzen, von denen sowohl die Forschung als auch die Unternehmen profitieren könnten.

"Wir haben so etwas zum Beispiel beim ‚federated learning‘ gemacht", sagt Krüger. Bei dieser Methode tauschen Roboter über spezielle Protokolle gewissermaßen Erfahrungen aus – wie zum Beispiel die Handhabung bestimmter Objekte am besten funktioniert. Die an diesem Projekt beteiligten Unternehmen erweitern dabei die Fähigkeiten ihrer Roboter – und die Forscher können an praktischen Beispielen ihre Methoden testen und verbessern.

Das allein werde aber nicht genügen, um Deutschland fit für die Zukunft zu machen, glaubt Krüger. Um junge Menschen darauf vorzubereiten, wie die Gesellschaft sich in Zukunft verändere, müsse man bereits an den Schulen ansetzen. "Der Fächer-Kanon in unseren Schulen ist noch immer wie vor 25 Jahren", kritisiert Krüger. Man müsse bereits in der Schule anfangen, die Kinder auf den Umgang mit KI vorzubereiten. "Tablets zu verteilen, wird nicht den großen Umschwung an technologischer Kompetenz bringen."

(lca)