Nylon: Kampf um fast nichts

Vor 75 Jahren kamen die ersten preiswerten NylonstrĂĽmpfe auf den Markt.

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Von
  • Joseph Scheppach

Vor 75 Jahren kamen die ersten preiswerten NylonstrĂĽmpfe auf den Markt.

Am 15. Mai 1940 tobte in amerikanischen Kaufhäusern eine Schlacht um einen Hauch von Nichts. Frauen schubsten und prügelten sich, um Nylonstrümpfe zu ergattern. Die gab es zwar schon vorher, allerdings nur zum horrenden Preis von 250 Dollar pro Paar. An jenem Mittwoch jedoch war in den USA der erste Verkaufstag von preiswerten Massenprodukten. Stolze fünf Millionen Paar wurden an diesem Tag abgesetzt. Er ging als "N-Day" in die Geschichte ein.

Was die Frauen derart entzückte, stammte aus dem Labor von Wallace Hume Carothers (1896–1937). Der Forschungsleiter des US-Chemiekonzerns DuPont hatte 1935 aus Erdölbestandteilen die erste Kunstfaser der Geschichte synthetisiert. Dieses Polyamid 6.6 (Markenname: "Nylon") lässt sich zu endlos langen, beliebig dünnen, sehr haltbaren Fäden ausziehen. Sie waren wesentlich feiner als herkömmliche Textilfasern und dennoch, so die Werbung, "stark wie Stahl". Kein Wunder, dass die Wunderfaser Nachahmer lockte.

Der IG-Farben-Chemiker Paul Schlack (1897–1987) wollte das Patent der Firma DuPont umgehen. Am 29. Januar 1938 hatte er Erfolg: Als er das aus Steinkohleteer gewonnene Caprolactam verkochte, brach das ringförmige Molekül auf und verknüpfte sich zu linearen Ketten, die chemisch und physikalisch fast identisch mit Nylon waren. Unter dem Markennamen "Perlon" und der chemischen Bezeichnung Polyamid 6 machte das Polymer später Karriere. Aber statt Frauenbeinen zu schmeicheln, wurde die "deutsche Alternative zu Nylon" zunächst nur in der Rüstungsindustrie eingesetzt, als Stoff für Fallschirme oder als Zusatz für Autoreifen, Uniformen, Bürsten und Pistolengriffe. Erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs entstanden die ersten Damenstrümpfe aus Perlon. Allerdings kostete ein Paar rund 15 Mark – so viel, wie ein Handwerker in gut zehn Stunden verdiente.

Auch Nylons blieben hierzulande nach dem Krieg zunächst teure Luxusartikel, weil kaum erhältlich. Auf dem Schwarzmarkt kosteten sie bis zu 200 Reichsmark – das Monatsgehalt einer Sekretärin. Eine Laufmasche war daher ein Drama – deswegen gab es "Laufmaschendienste", die kaputte Strümpfe wieder reparierten. Und wer sich erst gar keinen Nylonstrumpf leisten konnte, der improvisierte: Mit farbigen Tinkturen oder notfalls auch mit Kaffeesatz malten Frauen sich die Strumpfnaht auf die nackten Beine.

So konnte sie wenigstens nicht verrutschen, denn auf den Sitz der Naht achteten die Trägerinnen mindestens so genau wie auf die Dichte der Maschen. Deren Wert findet sich auf jeder Strumpfhosenpackung – angegeben in der Maßeinheit Denier (abgekürzt: "den"). Sie sagt aus, wie schwer ein Faden ist. Je leichter, desto transparenter die Strümpfe. "Die feinen Strümpfe ermöglichen einen Balanceakt zwischen Blöße und Verhüllung", erklärt Textilwissenschaftlerin Viola Hofmann von der TU Dortmund. "Zwar verhüllt der transparente Stoff die Beine, zugleich betont er aber die Vorstellung des Ausgezogenseins."

In den 50er-Jahren konnten rundstrickende Zylindermaschinen auch nahtlose Nylonstrümpfe günstig herstellen. Doch dies verhinderte nicht ihr Ende. Denn die aufkommenden Miniröcke erforderten Strumpfhosen. "Seit den großen Einbrüchen in den 70er- und 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts ist der Anteil halterloser Nylonstrümpfe am Gesamtmarkt der Damenbeinbekleidung auf rund zwei Prozent geschrumpft", sagt Constantin Wunn, Geschäftsführer von Kunert Fashion, dem früheren Weltmarktführer bei Nylonstrümpfen.

Seit Kurzem aber erleben Nylonstrümpfe ein Revival. "Besonders gefragt ist die Retro-Version mit der klassischen Naht", sagt Textilforscherin Viola Hofmann. "An ihr können Männerblicke ein Frauenbein hinaufgleiten." (bsc)