Oberster Gerichtshof in Alabama: Forschungsembryonen sind ebenfalls Kinder
Fortpflanzungskliniken sind geschockt: Sie mĂĽssen in dem US-Bundesstaat den Umgang mit gewonnenen Embryonen ĂĽberdenken, da diese als Kinder eingestuft wurden.
- Antonio Regalado
Ein Urteil des Obersten Gerichtshofs des US-Bundesstaates Alabama sorgt für Wirbel: Den Richtern zufolge gelten in Fortpflanzungslaboratorien gelagerte eingefrorene Embryonen als Kinder – mit allen Rechten. Die Entscheidung, die im Februar erfolgte, hat in der Fruchtbarkeitsbranche bereits "Schockwellen" ausgelöst und Befürchtungen geschürt, dass die In-vitro-Fertilisation künftig in die in den USA hart geführte Abtreibungsdebatte hineingezogen werden könnte. Die New York Times berichtete bereits, dass eine Klinik an der Universität von Alabama die Befruchtung von Eizellen in ihrem Labor eingestellt hat, weil sie eine mögliche strafrechtliche Verfolgung fürchtet.
In amerikanischen Kinderwunschzentren entstehen jedes Jahr Millionen von Embryonen wie am Fließband. Einige von ihnen werden tiefgekühlt und andere werden auch in der Forschung verwendet. Die meisten sind jedoch dafür bestimmt, in die Gebärmutter von Patientinnen eingepflanzt zu werden, damit diese schwanger werden können. Die Rechtsprechung in Alabama ist, so Beobachter, eindeutig religiös motiviert – die Entscheidung enthält zahlreiche Bibelzitate und sogar Verweise auf "Mord", wenn es um das Thema Abtreibung geht. Was jedoch bislang nicht viel Beachtung gefunden hat, ist eine spezifische Argumentation des Gerichts, dass ein Embryo "unabhängig von seiner Lokalität" ein Kind ist – also egal ob im Körper der Mutter oder außerhalb. Dies könnte Auswirkungen auf künftige technische Verfahren haben, wie z. B. künstliche Gebärmutterapparaturen oder aus Stammzellen hergestellte synthetische Embryonen.
Klinikunfall Auslöser
Die Entscheidung geht auf einen Vorfall in einer IVF-Klinik in Alabama, dem "Center for Reproductive Medicine", zurück, bei dem ein Patient plötzlich in einen Lagerraum ging und dort einen Behälter mit Embryonen aus flüssigem Stickstoff entnahm. Dabei "verbrannten die Minustemperaturen, bei denen die Embryonen gelagert worden waren, die Hand des Patienten, sodass dieser die Embryonen auf den Boden fallen ließ", so die Richter. Die Embryonen, die nur aus wenigen Zellen bestanden, tauten auf und starben ab.
Aus Verärgerung über dieses Missgeschick versuchten einige betroffene Familien daraufhin, finanziellen Schadenersatz zu erhalten. Sie klagten auf der Grundlage des Gesetzes über den unrechtmäßigen Tod von Minderjährigen in Alabama, das erstmals 1872 erlassen wurde; also lange vor Kinderwunschbehandlungen. Die Frage, die das Gericht zu entscheiden hatte, lautete demnach: Zählen gefrorene Embryonen als minderjährige Kinder oder nicht? Die Beklagten argumentierten teilweise, dass ein IVF-Embryo kein Kind oder keine Person sein kann, weil es sich noch nicht in einer biologischen Gebärmutter befindet. Keine Gebärmutter, kein Baby, keine Geburt und kein Kind, so die Anwälte. Und an dieser Stelle wird es interessant und führt in den Bereich der Science-Fiction: Richter Jay Mitchell stürzte sich auf die, wie er es nannte, "latenten Implikationen" der Argumentation der Verteidigung. Was ist dann mit einem Baby, das in einer künstlichen Gebärmutter heranwächst? Würde es auch nicht als Person gelten, fragte er, nur weil es nicht "im Uterus" ist?
Widerrechtliche Tötung
Dem Urteil zufolge gilt das Gesetz über die widerrechtliche Kindestötung "für alle Ungeborenen, unabhängig von ihrem Aufenthaltsort". Es könne "keine Ausnahme" für Embryonen gemacht werden, unabhängig von ihrem Alter – selbst wenn sie ein Jahrzehnt lang tiefgefroren waren. Auch schließe das Gesetz keine "extrauterinen Kinder" aus, die die Wissenschaft hervorbringen könnte. Es ist zwar üblich, dass Richter mit komplexen Fragen ringen, wenn sie versuchen, alte Gesetze auf neue Technologien anzuwenden. Das Ungewöhnliche an dieser Entscheidung ist jedoch, dass die Richter am Ende über eine Technologie entschieden haben, die noch gar nicht vollständig erfunden ist.
"Ich halte das Urteil für wirklich extraordinär", sagt Susan Wolf, Professorin für Recht der Medizin an der Universität von Minnesota. "Ich kann mich an keinen anderen Fall erinnern, in dem ein Gericht seine Entscheidung nicht nur auf eine Technologie stützt, die dem Gericht noch nicht vorliegt, sondern auch auf eine Technologie, die beim Menschen nicht existiert." Es könne nicht über zukünftige Verfahren entschieden werden, die nicht einmal Teil des Falles sind.
Schlechte Juristerei hin oder her, die Frage, über die die Richter in Alabama entschieden haben, könnte sich schon bald als sehr real erweisen. Mehrere Unternehmen entwickeln derzeit künstliche Gebärmütter, um sehr frühgeborene Kinder am Leben zu erhalten. Weitere Forschungslabors arbeiten mit speziellen Flaschen, in denen sie Mäuseembryonen heranziehen, bis sie Föten mit schlagenden Herzen sind. Ein neu gegründetes Unternehmen in Israel, Renewal Bio, will synthetische menschliche Embryonen (die aus Stammzellen entstehen) züchten, bis sie 40 Tage oder älter sind, um ihr Gewebe für die Transplantationsmedizin zu verwenden.
All diese Verfahren sind also in vollem Gange, sodass die Frage nach den Rechten solcher "bebrüteter" menschlicher Föten vielleicht nicht mehr lange hypothetisch bleibt. Anwälte und Ärzte könnten vor einem Dilemma stehen: Wenn ein Fötus in einem Tank heranwächst, wäre dann die Entscheidung, seine Unterstützungssysteme abzuschalten, durch die Abtreibungsgesetze liberaler Staaten geschützt, die in der Regel auf den Rechten der schwangeren Person basieren? Würde ein Fötus, der nur für das Wachstum von Organen gezüchtet wurde, dem die Hirnrinde fehlt und der keine Gefühle hat, in Alabama immer noch als Kind betrachtet werden? Es ist zwar offensichtlich, dass die Entscheidung eher die religiösen Ansichten der Richter widerspiegelt als die der Wissenschaft. Sie könnte aber Menschen echten Schaden zufügen, die einfach nur ein Baby haben wollen. Ist es deshalb nicht vielleicht an der Zeit, über diese schwierigen Fragen nachzudenken? Die Richter sehen das augenscheinlich so.
(bsc)