Diese App hilft Arbeitern in den USA, entgangene Löhne zurückzufordern

Reclamo hat damit begonnen, Wanderarbeitern zu ihrem Geld zu verhelfen. Eine App könnte dazu beitragen, die Landschaft der Rechtshilfe völlig zu verändern.

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(Bild: nattaphol phromdecha/Shutterstock.com)

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Von
  • Patrick Sisson
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Rodrigo Camarena sieht es so: Wenn man mit dem Smartphone Fahrdienste und Essen bestellen kann, warum sollte es einem nicht auch helfen, seine Rechte wahrzunehmen? Sein gemeinnütziger Innovations-Inkubator Justicia Lab hat die neue Web-App Reclamo entwickelt, um legalen und undokumentierten Wanderarbeitern zu helfen, wenn sie Opfer von Lohndiebstahl geworden sind. Indem sie sich mithilfe eines Anwalts durch Fragen auf Englisch oder Spanisch klicken, können die Nutzer Details zu ihrem Fall zusammentragen, ihre Rechte überprüfen und schließlich fertige Rechtsansprüche formulieren, die sofort einreichbar sind. Ein Prozess, der sonst mehrere Treffen mit einem Anwalt erfordern würde, lässt sich nun innerhalb einer Stunde abschließen.

Das Tool ging im Oktober letzten Jahres als Betatest in New York an den Start, der sich auf das Baugewerbe als besonders missbrauchsanfälligen Sektor konzentrierte. Es hat jetzt schon dazu beigetragen, dass Ansprüche auf entgangenen Lohn in Höhe von einer Million US-Dollar eingereicht werden konnten. Mitte Mai wurde die App erweitert, um Arbeitnehmern in Unternehmen von der Fertigung bis zur Haushaltsreinigung mehr Einfluss auf ihre Arbeitgeber zu geben.

"Indem wir ein unabhängiges, gemeinnütziges, digitales Rechtsinstrument schaffen, das von allen Fürsprechern gemeinsam genutzt werden kann, sorgen wir für wirklich gleiche Bedingungen für Menschen, die normalerweise daran gewöhnt sind, dass die Technologie gegen sie eingesetzt wird", sagt Camarena.

Lohndiebstahl bedeutet, dass Arbeitgeber Überstunden und reguläre Löhne kürzen oder manchmal einfach gar nicht bezahlen. Das kostet Arbeitnehmern in den USA nach Angaben des Economic Policy Institute jährlich rund 50 Milliarden Dollar. Viele überlastete Staatsanwälte scheitern oft an der Verfolgung dieser Fälle. Ein beträchtlicher Teil dieses Diebstahls trifft sowohl legale und als auch undokumentierte Einwanderer, zum Teil aufgrund von Kommunikationsbarrieren und ihrem vermeintlichen Mangel an Macht oder Rechtsmitteln.

Reclamo sammelt keine Informationen über die Einwanderung, da sie für diesen Zweck irrelevant sind. Sowohl das Bundesgesetz über faire Arbeitsbedingungen als auch die Gesetze vieler Bundesstaaten besagen, dass auch Einwanderer ohne Papiere, die einen erheblichen Teil der betroffenen Bevölkerung ausmachen, den gleichen Schutz wie jeder andere Arbeitnehmer beanspruchen können.

Die prekäre Situation, in der sich diese Arbeiter befinden, ist kein Zufall, sagt Michelle Franco. Die Professorin mit mexikanischen Wurzeln an der Ohio State University befasst sich mit Fragen der Herkunft und der Klasse in der Landschaftsarchitektur, einer Branche, die in hohem Maße auf die Arbeit von Einwanderern angewiesen ist. "Die tatsächlichen Gewinne und das Funktionieren dieser Industrien hängen vollständig von dieser Prekarität ab", sagt sie.

Reclamo entstand aus der Frustration über die Behandlung von Einwanderern unter der Trump-Regierung. Nachdem sie 2017 auf Artikel über Lohndiebstahl gestoßen waren, erkannten die Mitarbeiter von Justicia, dass es andere Möglichkeiten gab, zu helfen. Benutzertests, Interviews mit Organisatoren und Arbeitern aus der Gemeinde und andere Untersuchungen halfen dabei, die Form und Funktion der App zu entwickeln.

Arbeiter greifen auf die Web-App in einem Ressourcenzentrum oder bei einem Community-Organisator zu, sodass jemand da ist, der bei der Weiterverfolgung hilft und zusätzliche rechtliche Beratung bietet. Das Endergebnis des Prozesses umfasst sowohl einen Rechtsanspruch als auch ein Schreiben an den Arbeitgeber, das sich als der schnellste Weg erwiesen hat, Geld zurückzuerhalten.

Rodman Serrano, ein Community-Organisator von "Make the Road New York", einer Einwanderergruppe auf Long Island, nutzt Reclamo seit Anfang des Jahres und hat bereits eine Bestätigung erhalten, dass die Fälle geprüft werden. Zuvor, so sagt er, war es für benachteiligte Arbeiter schwierig, außerhalb der Arbeit Zeit zu finden, um sich mit Anwälten zu treffen, Hotlines anzurufen oder die richtigen Behördenvertreter zu finden. Zugewanderte Bauarbeiter sind mit so vielen wirtschaftlichen Problemen konfrontiert – darunter niedrige Löhne, hohe Miet- und Arztrechnungen sowie eingeschränkte Arbeitsmöglichkeiten für alle, die keine Papiere haben –, dass jeder Einkommensausfall verheerend sein kann.

Wer seine Ansprüche über Reclamo geltend macht, hat nun die Chance, einen gewissen Rechtsschutz im Einwanderungssystem sowie Hilfe bei der Rückforderung ihres Lohns zu erhalten. Im Januar erklärte die Regierung von US-Präsident Biden, dass Nicht-Staatsbürger, die in Arbeitskonflikte verwickelt sind, für einen Aufschub infrage kommen, der sie vorübergehend vor der Abschiebung schützt.

Indem die App Arbeitnehmern die Möglichkeit gibt, Beschwerden einzureichen und ohne Anwalt Rechtshilfe in Anspruch zu nehmen, behebt sie eine erhebliche gesellschaftliche Lücke: 92 Prozent der einkommensschwachen Amerikaner erhalten in zivilrechtlichen Angelegenheiten keine angemessene Rechtshilfe.

Die App ist aber auch Teil eines Vorstoßes für alternative juristische Dienstleistungen, die einige Juristen um ihre Rolle und letztlich auch um ihren Arbeitsplatz bangen lässt. Die sogenannte "Access to Justice"-Bewegung zielt darauf ab, Durchschnittsbürgern zu Rechtshilfe zu verhelfen, ohne dass sie einen Anwalt suchen, buchen und bezahlen müssen. Gerichte in Alaska und New York haben bereits entschieden, dass Anwaltsgehilfen, Studenten, Interessenvertretungen und Menschen ohne juristischen Abschluss bestimmte Dienstleistungen erbringen können, für die früher Anwälte erforderlich waren – die teuer und knapp sind. Einige sehen Künstliche Intelligenz (KI) und Chatbots mit ihrer sich ständig weiterentwickelnden Fähigkeit, komplexe Konversationen zu führen, als einen weiteren Weg zur Ausweitung der juristischen Dienstleistungen. Anwälte und Aktivisten wollen diese Techniken nutzen, um Aufnahmegespräche zu führen und Informationen zu sammeln.

Camarena hofft, dass Reclamo letztlich die Rechtshilfe alltäglicher macht und überlastete Anwälte entlastet, damit sie sich auf komplizierte Klagen und Sammelklagen konzentrieren können. Er glaubt auch, dass die Daten, die Reclamo sammeln wird, dazu beitragen können, Wiederholungstäter zu ermitteln, politische Entscheidungsträger zu beeinflussen und schließlich zu einem Trainingsset für fortschrittlichere Technologien werden, um die Reichweite der App zu vergrößern.

"Wir werden diese Lücke [beim Zugang zu Rechtshilfe] nicht schließen können, wenn wir nicht über die traditionellen Dienstleistungsmodelle hinausdenken", sagt Camarena. "Es gibt keinen Grund, warum wir nicht eine KI mit der von uns entwickelten Logik trainieren können."

(jle)