Patienten machen’s besser
Patienten rebellieren zunehmend gegen Medizintechnikfirmen, die gefährliche Probleme ihrer Geräte ignorieren – und zeigen ihnen, wie es besser geht.
- Veronika Szentpetery-Kessler
Ich habe mir jahrelang jeden Abend Sorgen gemacht, dass ich morgens nicht mehr aufwache“, sagt Dana Lewis. Die 29-Jährige leidet seit 15 Jahren an Diabetes Typ I, der angeborenen Form der Zuckerkrankheit. Abends müssen Diabetiker ihre Insulindosis besonders sorgfältig berechnen, damit es in der Nacht nicht zu einer lebensgefährlichen Unter- oder Überzuckerung kommt. Lewis besitzt zwar ein Gerät, das den Blutzuckerspiegel kontinuierlich überwacht und bei bedenklichen Werten Alarm schlägt. „Das ist auch toll, solange man nicht wie ich einen festen Schlaf hat und den Alarm einfach nicht hört“, sagt die amerikanische Kommunikationswissenschaftlerin. Lauter stellen ließ sich der Alarm nicht, und der Hersteller erwies sich als unkooperativ.
Viele andere Patienten fühlen sich von Medizintechnik-Herstellern ebenfalls im Stich gelassen. Und immer mehr von ihnen wollen es nicht länger hinnehmen, dass lebensbedrohliche Fehler ignoriert oder verschleppt werden. Amerikanische Diabetiker haben sich deshalb unter dem Hashtag #WeAreNotWaiting zusammengeschlossen. Sie entwickeln in Eigeninitiative Lösungen, um sie allen zur Verfügung zu stellen. Auch Ärzte und Kliniken starten zunehmend solche Graswurzelprojekte.
Lewis selbst begann 2013 gemeinsam mit ihrem Freund Scott Leibrand, ihren Insulinsensor zu hacken. Zuerst entlockten sie ihm mit der Software eines anderen Bastlers die Glukosewerte. Ein Raspberry-Pi-Minicomputer leitet sie nun an Lewis’ Smartphone weiter, das sich laut genug melden kann. Außerdem hat das Paar eine zusätzliche Sicherheitsschleife eingebaut: Bestätigt Lewis den Alarm nicht innerhalb einer bestimmten Zeit, geht die Warnmeldung weiter auf Leibrands Telefon.
Lewis begann zudem zu dokumentieren, wie viel Insulin und welches Essen sie zu sich nahm. Mit diesen Daten und dem Verlauf ihres Glukosespiegels trainierte sie Algorithmen, die Entwicklung der Zuckerwerte vorherzusagen. Nun meldet sich das System nicht erst, wenn es akut wird, sondern warnt schon bis zu 90 Minuten früher vor einer drohenden Über- oder Unterzuckerung. Ein paar Hacks später hatte das Paar auch die Insulinpumpe eingebunden, die das benötigte Insulin – möglicherweise als erste weltweit – weitgehend selbstständig verabreicht. „Das war 2014. Seitdem habe ich das System Tag und Nacht benutzt, und es ist schwer, mich zu überzeugen, es abzulegen“, sagt Lewis.
Die heute im Gesundheitswesen tätige Diabetikerin betont, dass ihr „Do-It-Yourself Pancreas System“ (DIYPS) nicht komplett eigenständig funktioniert. Bei den Mahlzeiten muss Lewis immer noch einiges selbst berechnen. DIYPS befreit sie allerdings von den meisten Kontrollmessungen und Justierungen. Vor allem verhindert es in der Regel, dass Fehlberechnungen sowie unerwartete Reaktionen auf das Insulin nachts und zwischen den Mahlzeiten Schäden verursachen.
Um das System kommerziell zu vermarkten, hätte Lewis denselben aufwendigen Zulassungsprozess wie kommerzielle Medizintechnik-Unternehmen durchexerzieren müssen. Deshalb entschied sie sich gemeinsam mit ihrem Partner, ihre Lösungen über die OpenAPS-Plattform (Artificial Pancreas System) frei verfügbar zu machen. Jeder Nutzer muss selbst entscheiden, ob er Aufwand und Risiko eingehen will. Inzwischen verwenden es mehr als 700 Diabetiker, darunter auch viele Kinder.
Solche Open-Source-Ansätze haben jedoch einen Nachteil: Sie helfen oft nur jenen wenigen Betroffenen, die genug Zeit haben und sich die Implementierung zutrauen. Der New Yorker Bryan Mazlish, eigentlich Experte für automatisierten Aktienhandel, will daher ein fertiges System auf den Markt bringen – trotz aller regulatorischen Hindernisse. Er hatte für seinen Sohn Sam und seine Frau Sarah ebenfalls eine automatische Insulinpumpe entwickelt, die drohende Zuckerhochs und -tiefs vorhersagt. Aber die etablierten Hersteller zeigten kein Interesse. Also gründete Mazlish gemeinsam mit anderen Eltern von Diabetikerkindern das Start-up Bigfoot Biomedical. Die abschließende Studie startet dieses Jahr. Wenn alles gut läuft, könnte 2020 ein fertiges Produkt auf den Markt kommen.
(inwu)