Post aus Japan: AR für die Ohren

Bisher wird bei Augmented Reality die reale Welt mit gut eingepassten künstlichen Bildern aufgepeppt. Nun soll auch der Hörsinn getäuscht werden. Japaner wirken an dem Trend mit.

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Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Martin Kölling

Bisher mussten wir sehr genau lauschen, um das Gras wachsen zu hören. Eine neue Technik aus Japan könnte die Grashalme um Sie herum sogar so schreien lassen, dass Sie sie im Raum orten könnten. "Acoustic augmented reality" nennt der Technikkonzern NEC seinen Vorschlag, der Dingen eine Stimme geben soll.

Die akustische Schnittstelle zwischen Umwelt und Mensch sind bei NEC Stereo-Kopfhörer, die dank Positionssystem und Neun-Achsensensor dreidimensional die Richtung und die Entfernung von Geräuschquellen vorgaukeln können. Das mit dem räumlichen Klangbild funktioniert sogar, wenn wir uns bewegen und dabei den Kopf drehen.

Eine wunderbare Hörwelt tut sich damit auf. Als Anwendungsgebiete schlägt NEC Marketing- und Lenkungs-/Navigationssyteme zum Beispiel für Touristen vor. Man stelle sich vor: Auf einmal können Litfaßsäulen sprechen. So zum Beispiel (wenn die Technik mit Gesichtserkennung gekoppelt würde): "Hallo Herr Kölling, Technology Review hat in seiner neuesten Ausgabe einen Artikel über Technik aus Japan. Wollen Sie mal reinhören?"

Post aus Japan

Japan probiert mit Elektronik seit jeher alles Mögliche aus - und oft auch das Unmögliche. Jeden Donnerstag berichtet unser Autor Martin Kölling an dieser Stelle über die neuesten Trends aus Japan und den Nachbarstaaten.

Eine andere Idee würde eine Technik von NECs Rivalen Mitsubishi Electric ermöglichen. Der Konzerne hat ein smartes Hörverfahren entwickelt, das mehrere unterschiedliche Stimmen in Gesprächen von einander isolieren kann. Ein derart aufgepeppter Kopfhörer könnte älteren Semestern bei Partyabenden helfen, im Stimmengewirr ihre Gesprächspartner herauszufiltern.

Und dies ist nur ein Paar ostasiatischer Beiträge zu einem breiteren Trend, der sich nach Jahrzehnten der Forschung endlich Bahn zu brechen scheint. Selbst Microsoft schlug 2012 eine Idee vor, die Sehbehinderten helfen könnte. Ende vorigen Jahres beschwor das Magazin Wired akustische AR nun als eines der nächsten großen Dinge herauf.

Der Artikel schildert beispielsweise wie ein maschineller Musiklehrer beim Gitarre üben die Motivation steigert. Das geschlossene System lässt dazu schräge Klampfentöne harmonischer als in der Realität erscheinen. Ideal für Menschen mit herabgesetzter Frustrationstoleranz. Ein crowdfinanziertes Projekt will ein System entwickeln, das verschiedene gesprochen Sprachen quasi in Echtzeit in unsere Ohren übersetzen will. Auch jenseits des Artikels tut sich was. Die französische Firma Augmented Acoustics hat das System Supralive entwickelt, das Konzerte noch mitreißender machen soll.

Meiner Anschauung nach glaube ich, dass diese akustische AR kurz- und mittelfristig mehr Potenzial und Nutzwert hat als die immer wieder gehypten Datenbrillen. Deren bisherigen Umsetzungen haben mich oft irritiert. Denn eingeblendete Bilder und vor allem Text lenken teilweise gefährlich von der Umwelt ab.

Akustische Systeme könnten viel natürlicher wirken, weil sie unsere Sicht quasi auf "normalem" Wege ergänzen – über das Ohr. So kann das Augenmerk von Touristen akustisch auf Attraktionen gelenkt werden, ohne das erst umständlich Textmeldungen in AR-Brillen erscheinen werden. Noch witziger finde ich die Vorstellung, dass Statuen auf einmal zu sprechen beginnen oder Kirchturmglocken auch vor der vollen Stunde bimmeln. Sehr sinnig, so mein Fazit. Bereits im kommenden Jahr will NEC mit der Vermarktung ihres Systems beginnen. Ich jedenfalls bin gespannt.

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