Quanteneffekte: Der Stoff, der aus dem Donut kam

Mithilfe geometrischer Überlegungen haben Forscher eine neue Stoffklasse gefunden. Die "topologischen Materialien" glänzen mit ungewöhnlichen Eigenschaften.

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Von
  • Wolfgang Richter
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Nie mehr heiße Oberschenkel – weil die Prozessoren des Notebooks keine Wärme mehr produzieren. Glasfaserleitungen ohne Streuverluste für die Lichtstrahlen. Robuste Quantencomputer, die man auf Safari mitnehmen könnte. All das sollen "topologischen Materialien" leisten, für die es 2016 den Nobelpreis für Physik gab.

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Wie das Prinzip funktioniert, erklärt Claudia Felser, Direktorin des Max-Planck-Instituts für Chemische Physik fester Stoffe in Dresden, anhand eines Klumpen Tons: "Nehmen Sie ihn, und formen Sie daraus eine Schale." Auch wenn die Schale ganz anders aussieht als der kugelförmige Klumpen – "topologisch" sind beide gleich. Denn auf beiden Objekten kann man seinen Finger irgendwohin setzen und dann auf geradem Weg jeden anderen Punkt auf der Oberfläche anfahren.

Man muss vielleicht rauf-und runterfahren, aber nie die Richtung wechseln. "Das ist nicht mehr möglich, wenn Sie irgendwo mit dem Finger auf ein Loch stoßen", erklärt Felser. Das Loch muss man mit dem Finger auf jeden Fall umfahren, also eine Kurve machen. Diese geometrischen Überlegungen lassen sich mathematisch fassen. Das Loch kann dann auch ganz anders gedeutet werden und muss nicht mehr für eine räumliche Leerstelle stehen. "Seit den 80er-Jahren hilft uns die Mathematik, die geometrische Formen beschreibt, auch bei der Lösung physikalischer Probleme", sagt Felser.

Topologische Materialien sind also Stoffe, deren Eigenschaften mithilfe der topologischen Mathematik erklärt werden können. Ein Donut (mit einem Loch) unterscheidet sich in seiner mathematischen Beschreibung grundlegend von einer Kugel. Und eine Brille (mit zwei Löchern) oder eine Brezel (mit drei Löchern) haben wieder eine andere Topologie. In der Physik würde man sagen, es handelt sich um Phasenübergänge in einen anderen Zustand, wie von flüssig nach gasförmig. Doch wie lassen sich daraus die besonderen Eigenschaften der topologischen Materialien erklären? "Solange sich die Topologie nicht ändert", sagt Claudia Felser, "ändert sich auch nicht die physikalische Eigenschaft, die wir damit beschreiben." Topologische Materialien sind also robust gegen Störungen.

Einen aufsehenerregenden Beweis für diese Robustheit lieferte Laurens Molenkamp von der Universität Würzburg im Jahr 2007. Er konnte erstmals einen sogenannten topologischen Isolator herstellen, und zwar aus einer dünnen Schicht einer Verbindung von Quecksilber und Tellur. Der Name "topologischer Isolator" führt allerdings in die Irre, denn interessant an ihm ist gerade, dass an seiner Oberfläche ein widerstandsloser Strom ohne Wärmeentwicklung fließen kann. Für die Industrie ist das spannend, weil Abwärme heute einer der limitierenden Faktoren bei der weiteren Leistungssteigerung von Computerchips ist.

Möglich wird der widerstandslose Stromfluss durch einen Effekt, den Elektronen nahe am Atomkern auslösen. Handelt es sich um die Atomkerne von schweren Elementen mit vielen positiv geladenen Protonen – wie bei Quecksilber und Tellur der Fall –, dann ist das elektrische Feld dieser Kerne sehr stark. Bewegen sich die kernnahen Elektronen durch dieses elektrische Feld, entsteht ein magnetisches Feld. Dies wiederum tritt in Wechselwirkung mit dem kleinen magnetischen Moment der Elektronen, dem Spin. Durch diesen zusätzlichen Energieschub kann nun – unter bestimmten quantenmechanischen Voraussetzungen – das gesamte Elektronengefüge des Atoms verrutschen. Es kommt zu einem Phasenübergang – oder eben einem "Loch" im topologischen Bild von oben.

Am Rand der Probe ist die Wirkung der Kernfelder kleiner, die Energie daher normal verteilt. Es gibt dort also kein Loch. "Die Oberflächenzustände des Materials sind topologisch geschützt", erläutert Molenkamp. Und dieser Schutz macht einen widerstandslosen Stromfluss möglich. Denn die Leitungselektronen in der Oberflächenschicht können nun aus strukturellen Gründen an Fehlern im Kristall nicht gestreut werden, wandern also ungehindert durch das Material.

Einen ähnlichen Effekt erwarten Theoretiker in lichtleitenden Kristallen, in denen Photonen dann nicht mehr gestreut werden könnten. Gerade für die Weiterleitung von Quantenbits über große Entfernungen – etwa für die Quantenkryptografie – wäre dies ein entscheidender Fortschritt. Claudia Felser hat im Juli zusammen mit Kollegen einen Atlas publiziert, der Materialfamilien auflistet, die topologische Effekte zeigen müssten. Eine chemische Verbindung wurde dann als Kandidat aufgenommen, wenn die Forscher ihre elektronischen Zustände mithilfe der topologischen Mathematik in ähnlicher Weise beschreiben konnten wie bei einem der inzwischen bekannten topologischen Materialien.

Auf Basis solcher Überlegungen will Microsoft einen besonders stabilen Quantencomputer bauen, der relativ unempfindlich gegenüber äußeren Störungen ist. Der topologische Schutz entsteht hier durch einen besonderen Trick. Ausgangspunkt ist die Kombination eines halbleitenden Materials mit einem Supraleiter. Während die Stromleitung im Supraleiter durch quantenmechanisch ununterscheidbare Elektronenpaare stattfindet, geschieht sie im Halbleiter ganz klassisch – durch die Bewegung von Elektronen und positiv geladenen "Löchern". In der Grenzschicht zwischen beiden Materialien könnte nun ein Loch aus dem Halbleiter einem nahen Elektronenpaar aus dem Supraleiter ein Elektron wegnehmen, statt des Lochs bliebe dann ein einzelnes Elektron übrig. Ob das tatsächlich passiert, lässt sich nicht genau vorhersagen. Beide Zustände, Loch oder Elektron, sind also mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit möglich – daher kommt es zu einer quantenmechanischen Überlagerung.

Dieser Überlagerungszustand kann sich über die gesamte Länge des Halbleiters ausbreiten. Daraus resultiert die Stabilität. Denn quantenmechanische Überlagerungen sind zwar extrem empfindlich gegenüber äußeren Einflüssen. Doch die Störung muss immer mit dem gesamten Zustand wechselwirken. Bei einer räumlich ausgedehnten Überlagerung ist dies sehr unwahrscheinlich. 2012 gelang es Leo Kouwenhoven von der Universität in Delft, diese "Majorana-Anyonen" genannten Überlagerungen erstmals nachzuweisen. Microsoft hat ihm und seinem Kollegen Charles Marcus in Kopenhagen nun jeweils ein Labor mit etwa 20 Mitarbeitern spendiert. Im Sommer wurden die Verträge unterzeichnet, demnächst wollen die Wissenschaftler zeigen, dass sich die Majoranas als Qubits für einen Quantencomputer eignen.

(bsc)