Verdammt seltsam
Die merkwürdigen Phänomene der Quantenmechanik könnten das Tor zu einer ganz neuen Welt öffnen. Die EU investiert daher eine Milliarde Euro in die Entwicklung von Quantentechnologie.
Dieser Text-Ausschnitt ist der aktuellen Print-Ausgabe der Technology Review mit dem Fokus "Quantentechnik" entnommen. Das Heft ist ab 12.10.2017 im gut sortierten Zeitschriftenhandel und im heise shop erhältlich.
Mark Everett hat seinen Vater kaum gekannt. Hugh Everett III starb an einem Herzinfarkt, als Mark 19 Jahre alt war. Der verschlossene Kettenraucher, der zu Hause wenig sprach, der immer korrekt gekleidet am Tisch saß mit dunklem Anzug und Krawatte, hat versucht, eines der größten Rätsel der Quantenmechanik zu lösen – und ist wahrscheinlich daran zerbrochen. Gut 20 Jahre später steht Mark, mittlerweile ein erfolgreicher Rockmusiker, in Princeton und lässt sich dieses Rätsel vorführen. „Wow“, sagt er schließlich leise. „Das ist es? Das haut mich wirklich um.“
Wie unter einem Brennglas verdichtet die Szene in dem preisgekrönten Dokumentarfilm „Parallel Worlds, Parallel Lives“ die persönliche Tragik Everetts: Der Mann hat gewissermaßen versucht, das Kleingedruckte in der Gebrauchsanleitung für das Universum zu entziffern – aber kaum jemand hat Notiz davon genommen. Nicht einmal sein Sohn wusste, welch grundlegende Fragen sein Vater bearbeitet hat. Was Mark Everett „umgehauen“ hat, ist ein sogenanntes Doppelspalt-Experiment, in dem ein stark abgeschwächter Laser einzelne Photonen auf einen undurchsichtigen Schirm mit zwei Schlitzen schießt. Eine Kamera hinter dem Schirm registriert, wo die Photonen auftreffen. Aber statt zwei heller Streifen registriert die Kamera hinter dem Schirm ein verschmiertes Muster mit einem hellen Fleck in der Mitte. Die Lichtteilchen verhalten sich wie Wellen – und zwar jedes einzelne von ihnen. Als ob jedes Photon an zwei Orten gleichzeitig wäre.
Die Quantenmechanik ist voll von solch paradoxen Effekten. Jahrelang diskutierten Physiker erbittert, wie sie zu erklären seien. Ende der 1920er-Jahre dann schloss sich die Mehrheit der Deutung des dänischen Physikers Niels Bohr an: Welchen Weg ein Photon genommen habe, könne man schlicht nicht beantworten. Erst wenn es auf den Schirm trifft und gemessen wird, sei eine wissenschaftliche Aussage darüber möglich. Die Diskussion war beendet. Nur Everett, der brillante Doktorand in Princeton, wollte das nicht akzeptieren. Für ihn entsprach jeder der Wege einer eigenen Realität, einem eigenen Universum. 1959 fuhr Everett entgegen dem Rat seines Doktorvaters gar nach Kopenhagen, um seine Theorie mit Niels Bohr persönlich zu diskutieren. Er konnte Bohr jedoch nicht überzeugen und wandte sich völlig von der Physik ab.
Die Fokus-Artikel im Einzelnen:
Seite 68 - Überblick: Die Quantenmechanik öffnet die Tür zu einer neuen Welt
Seite 72 - Computer: Eine Funktionsanleitung fĂĽr Quantenrechner
Seite 76 - Sensorik: Quantentechnik ermöglicht hochsensible Messinstrumente
Seite 78 - Kryptografie: Ein erdumspannendes Quantennetz soll die Kommunikation abhörsicher machen
Seite 80 - Vernetzung: Quanteneffekte könnten den Informationsaustausch im Internet verbessern
Seite 82 - Materialien: Mit abstrakter Geometrie lassen sich neuartige Stoffklassen finden
(wst)