Schimpansen verarzten offene Wunden mit Insekten​

Nach ihrer ungewöhnlichen Entdeckung beginnt für Osnabrücker und Leipziger Forscher die Detektivarbeit, um die Insektenart und ihre Wirkung zu identifizieren.​

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Nicht nur beim Lausen haben die Schimpansen einige Tricks auf Lager.

(Bild: ©Tobias Deschner / Ozouga Chimpanzee Project)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Veronika Szentpetery-Kessler

Schimpansen im gabunesischen Loango Nationalpark greifen sich Hilfe für ihre Wunden buchstäblich aus der Luft. Mit einer blitzschnellen Handbewegung schnappen sie sich fliegende Insekten oder pflücken sie von Blättern und drücken sie zunächst kurz zwischen den Lippen zusammen. Dann platzieren sie die etwa fünf Millimeter großen Krabbler in der eigenen Wunde oder in die offene Verletzung von anderen Tieren und bewegen es dort mit ihren Fingerspitzen hin und her.

Das schreibt die Evolutionsbiologin und Co-Erstautorin Alessandra Mascaro im Fachjournal Current Biology. Oft entfernen die Tiere das Insekt danach mehrmals aus der Wunde und legen es immer wieder hinein.

Das ungewöhnliche Verhalten fiel Mascaro und ihrer Kollegin Lara Southern erstmals 2019 auf, als sie als Forschungsassistentinnen am gemeinnützigen Ozouga-Schimpansenprojekt von Osnabrücker und Leipziger Forschern mitarbeiteten. "Ich habe nicht sofort gesehen, was genau geschehen ist", erzählt Mascaro. "Das Hinlangen und etwas Kleines greifen passierte einfach zu schnell. Ich habe nur gesehen, dass Suzee den Fuß ihres Sohnes Sia versorgt." Erst bei der abendlichen Auswertung der Filmaufnahmen erkannte das Team, dass es wahrscheinlich eine komplexere Wundbehandlung dokumentiert hatte, als das übliche Blut-Abtupfen mit Blättern.

Es blieb kein einmaliges Ereignis. Im Verlauf von 15 Monaten beobachteten die Forscher im Ozouga-Camp, das nur 700 Meter vom Atlantischen Ozean entfernt ist, bei 22 Schimpansen 76 Wunden. In 19 Fällen behandelten Tiere sich selbst, während sie in drei Fällen die Insekten für andere Artgenossen fingen und sie versorgten. Darunter waren auch nicht verwandte Tiere. "Wir wissen, dass Schimpansen verschiedene Insektenarten kennen, sie fressen zum Beispiel Termiten oder brechen mit Stöcken den Boden auf, um an den Honig in den unterirdischen Nestern von stachellosen Bienen heranzukommen", sagt die Kognitionsbiologin Simone Pika von der Universität Osnabrück, die das Ozouga-Schimpansen-Projekt gemeinsam mit dem Primatologen Tobias Deschner im Rahmen des Ozouga e.V. leitet.

Bei der Auswertung der Filmaufnahmen erkannte das Forscher-Team, dass es wahrscheinlich eine komplexere Wundbehandlung durch Schimpansen mithilfe von Insekten dokumentiert hatte.

(Bild: Mascaro et al. 2022, Current Biology.)

Fluginsekten in Verletzungen zu legen ist allerdings eine neue Entdeckung in dem noch nicht so alten Gebiet der Selbstmedikation bei Tieren. "Das ist die erste veröffentlichte Beobachtung einer Behandlung für offene Wunden. Sie passt sehr gut dazu, was wir über Selbstbehandlung bei Tieren wissen", sagt der Primatologe Michael Huffman von der Universität Kyoto. Es sei zudem auch das erste dokumentierte Beispiel für eine Mutter-Kind-Behandlung.

Auch andere Primaten wie Klammeraffen und Kapuzineraffen praktizierten topische, also äußerlich angewandte Medizin. "Sie zerkauen manchmal stinkende und manchmal auch aromatisch riechende Pflanzen, und reiben sich mit der speichelhaltigen Paste gegen Parasiten und Keime ein“, sagt Huffman. Meistens fressen Tiere für sie sonst unübliche Pflanzen, um inneren Parasiten oder Keime loszuwerden. So futtern etwa Motten-Raupen bei Fliegenlarven-Befall giftige Pflanzen in sicheren Mengen. Schafe wechseln bei Parasitenbefall zu tanninhaltigen, bitter schmeckenden Pflanzen ohne Nährwert. Orang-Utans zerkauen eine sonst nicht verzehrte Pflanze und reiben sich mit dem schmerzlindernden Pflanzensaftschaum ein.

Auch Insekten gehören schon zur Tier-Apotheke, dienten bisher allerdings eher als Creme oder Tinktur. So verwenden Kapuzineraffen neben der Pflanzenpaste auch ein Mus aus zerdrückten giftigen Tausendfüßlern als äußere Insektenabwehr, während Rotstirnmakis auf Madagaskar ihre Tausendfüßler nur vorsichtig ankauen, damit diese aus Stress das orangene Moskitomittel Benzochinon absondern. Einige Vögel beherbergen lebende Ameisen als Bodyguards, die per Säureangriff äußere Parasiten fernhalten.

Ähnlich erstaunlich wie die Behandlung selbst war für die Osnabrücker und Leipziger Forscher auch, dass das Insektenauflegen oft ein soziales Ereignis ist. "Das Verhalten erzeugt eine Riesen-Aufmerksamkeit und es scheint, dass alle in der Nähe dazukommen und sich das angucken wollen", sagt Projektleiterin Pika. Oft blieb es nicht beim Angucken: Eine Eigenbehandlung wurde mehrmals von anderen Schimpansen wiederholt oder Tiere fingen ein Insekt für verletzte Artgenossen.

Als nächstes wollen die Wissenschaftler herausfinden, welche Insektenarten die Schimpansen in die Wunden legen und was sie dort bewirken. Tierschutzprotokolle schreiben ihnen aus gutem Grund einen Mindestabstand von acht Metern zu den Primaten vor, sagt Co-Entdeckerin Lara Southern, die an der Universität Osnabrück über Schimpansen-Kommunikation promoviert. Auf diese Entfernung lieferten ihre bisherigen Kameras keine ausreichend scharfe Bilder. Deshalb soll eine Hightech-Kamera für Dokumentarfilme die Insekten identifizieren helfen.

"Es wäre auch spannend zu sehen, ob ein Tier immer die gleiche Insektenart fängt oder ob es mehrere Insektenarten gibt, die vielleicht wundheilende Substanzen in sich haben", sagt Pika. Können die Schimpansen zudem abschätzen, bei welchen Wunden die Insektenbehandlung hilft und bei welcher Wundgröße oder Wundzustand vielleicht nicht mehr?

Zudem wollen die Forscher den Waldboden künftig noch gründlicher nach den übriggebliebenen Insektenresten durchforsten: "Gerade durch das wiederholte Applizieren ist am Ende oft fast gar nichts mehr von dem Insekt übrig", sagt Pika. Das Team wird die Behandlungsorte nach dem Weiterziehen der Schimpansen wie einen Tatort für die Spurensicherung "richtig abriegeln und dann Blatt für Blatt alles umdrehen, bis wir hoffentlich am Ende Glück haben", so die Kognitionsbiologin.

Parallel dazu will Mascaro im Rahmen ihrer Doktorarbeit aus der Wundheilung auf die Wirkweise der Insektenbehandlung schließen. Es ist denkbar, dass das wiederholte Zusammendrücken im Mund der Schimpansen sie eine keimtötende oder schmerzlindernde Flüssigkeit absondern lässt. Vielleicht hilft der Speichel auch dabei, die Sechsbeiner durch Befeuchten ihrer Flügel an der Flucht zu hindern.

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(jle)