Selbstheilendes Sehzentrum

Bochumer Neuroforscher zeigen, dass auch noch Monate nach einer Hirnverletzung neue Nervenzellen in einer geschädigten Region aktiviert werden, um verloren gegangene Funktionen zu ersetzen – eine wichtige Erkenntnis für dauerhafte Reha-Maßnahmen.

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Von
  • Edda Grabar

Es ist schon ein kleines Wunder: Die Katze kann sehen – und das, obwohl ihre Netzhaut verletzt war. Den Grund haben Forscher von der Ruhr-Universität Bochum nun im Fachmagazin Proceedings of the National Acadamy of Science (PNAS) veröffentlicht: Das Gehirn der Katze hat sich nach der Verletzung in einer Weise umorganisiert, die bislang nicht für möglich gehalten worden war. An die geschädigte Region angrenzende Nervenzellen übernahmen die Funktion der „blinden“ Zellen. „Zwar nicht so gut, wie das Original. Aber sie arbeiten“, sagt Ulf Eysel, Leiter der Neurophysiologie an der Medizinischen Fakultät.

Er und sein Kollege Dimitrios Giannikopoulos sahen den Zellen der Sehrinde ein Jahr bei ihrer Neuprogrammierung zu. Ihr Ergebnis: Die Fähigkeit des Gehirns, sich nach Läsionen neu zu ordnen, bleibt länger bestehen als bisher angenommen. Denn noch nach einem Jahr knüpften die fremden Neuronen neue Kontakte, um den zerstörten Netzhautfleck zu vertuschen.

Schon lange weiß man um die enorme Regenerationsfähigkeit des Gehirns. Patienten mit Schlaganfällen oder Hirnverletzungen lernen wieder gehen, wieder sprechen oder erlangen sonst eine verloren geglaubte Fähigkeit wieder. Ähnliches gilt für Nervenschädigungen außerhalb des Gehirns, deren Informationen es aber verarbeitet. Bereits 1995 beschrieb der amerikanische Neuroforscher Charles Gilbert in einer Studie, dass Nervenstränge sich im Gehirn nach Verletzungen der Netzhaut verzweigten. Niemand jedoch kam zu ähnlichen Ergebnissen wie jetzt die Bochumer Forscher.

Im Gegenteil: Erst letztes Jahr im Mai durchleuchteten Wissenschaftler vom Max-Planck-Instituts für Entwicklungsbiologie Affen mit verletzten Netzhäuten den Kopf und sahen, „dass sie nichts sahen“, sagt Eysel. Keine neu aktivierten Nervenzellen, keine erhöhte Aktivität. Die Befunde über Neuverdrahtungen der Neuronen geriet ins Wanken, die Expertenwelt teilte sich auf: Die Beweglichkeit eines erwachsenen Gehirns, sich neuen Situationen anzupassen, sei verschwindend gering, glaubt eine Gruppe von Forschern.

Doch die Arbeit der Bochumer zeigt nun das Gegenteil. Nach der Verletzung geraten die Nervenzellen der Hirnrinde, die um den erblindeten Fleck liegen in Alarmbereitschaft. „Sie werden nicht nur aktiviert, sondern überaktiviert. Sie durchlaufen eine Art Verjüngungskur“, so Eysel. Denn die übersprießende Geschäftigkeit ließe sie Eigenschaften annehmen, die sonst bei den viel anpassungsfähigeren Neuronen von Neugeborenen und Kindern zu beobachten seien: Sie würden flexibel, lernfähiger und schlössen neue Kontakte zu anderen Nervenzellen.

„Die ganze Art der Informationsaufnahme und Verarbeitung ändert sich plötzlich. Die Landkarte des Hirns wird umgeschmissen, und beginnt sich neu zu organisieren“, erklärt der Neurophysiologe. Die Zahl der beteiligten Zellen im geschädigten Gebiet liegt je nach Entfernung vom gesunden Randbereich zunächst zwischen zehn und fast 100 Prozent.

„Die Neu-Verdrahtung wandert ähnlich einer Welle über Wochen vom gesunden Randbereich immer weiter in die erblindete Gehirnregion", erklärt Dimitrios Giannikopoulos. Denn nach der regen Phase normalisieren sie sich wieder, orientieren sich neu und übernehmen in geschwächtem Maße die Arbeit ihrer Vorgänger. Dann aber erlebten die Forscher eine kleine Überraschung: Nach einer gewissen Zeit – zwischen drei Monaten bis zu einem Jahr – gab es einen weiteren Schub. Und die Zahl der Zellen, die sich tief im geschädigten Bereich an der Regeneration beteiligten Nervenzellen, stieg von 10 auf fast 50 Prozent.

Das sei zum einen ein wissenschaftliches Novum und möglicherweise die funktionelle Bestätigung für das, was der Amerikaner Gilbert bereits anatomisch beobachtete, so Eysel . Viel wichtiger sei aber die Bedeutung für Patienten mit Hirnverletzungen. „Frühe Reha-Maßnahmen sind ganz bestimmt am Erfolg versprechendsten, jedoch gewinnen durch diese Ergebnisse auch spätere Rehabilitationsphasen weiter an Bedeutung“. (nbo)