Smarte Städte: Es ist nicht alles schlau, was leuchtet

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Das Stadtmodell von Songdo ist nämlich längst als standardisierter Baukasten auf dem Markt. Der südkoreanische Neubau dient als Aushängeschild für die Smart City vom Reißbrett. Der Generalbauunternehmer Gale International bietet das Konzept vom Wohnhochhaus über die Datenzentrale bis zur Schlüsselkarte in modularen Einzelteilen an, die sich nach und nach zu einem weiteren Songdo zusammensetzen lassen. Ecuador hat bereits zugegriffen. Wo die südamerikanische Version entstehen wird, ist allerdings noch unklar. Vietnam und sogar der bürgerkriegsgebeutelte Jemen sollen ebenfalls Interesse signalisiert haben. Auch Jens Libbe vom Deutschen Institut für Urbanistik befürchtet, dass ISO-Normen und Baukasten-Prinzip an den Interessen der Stadtbewohner vorbeigehen: "Die angestrebte Normung ist auf die Machbarkeit von Technologien ausgerichtet. Städte werden dabei allein als Marktplatz der Technologieanwendung begriffen", resümierte er im vergangenen Jahr in einem Institutsbericht.

Ein Paradebeispiel dafür ist Santander. Die nordspanische 180000-Einwohner-Stadt bietet sich seit 2010 als Testumgebung für alle Smart-City-Ideen, die irgendetwas mit Sensoren zu tun haben. 20000 vernetzte Messfühler im Straßenteer, an Straßenlampen, auf Busdächern oder in Wasserrohren können Unternehmen und Forscher anzapfen, um auszuprobieren, wie sich eine Stadt mithilfe eines so feinmaschigen Informationsnetzes intelligenter machen lässt.

Dabei hat sich gezeigt: Längst nicht jede Anwendung ist sinnvoll. Die Technologieanalystin Jennifer Belissent vom US-Beratungsunternehmen Forrester Research aus Cambridge hat Santanders Konzept analysiert und fragt etwa: "Braucht eine Stadt wirklich ein Sensornetzwerk, um die städtischen Parks zu bewässern, wenn ein echter Mensch dies billiger und effektiver tun könnte?" Auch die Einwohner Santanders begeistern sich weit weniger für die Neuerungen als erhofft, wie Bürgermeister Iñigo de la Serna schon drei Jahre nach dem Start zugeben musste: "Die Bürger haben eine enorme Gleichgültigkeit gegenüber der Technik entwickelt."

Die große Frage lautet also: Welche Projekte sind wirklich sinnvoll? Welche Ideen dienen gleichzeitig den Bewohnern, der Umwelt und sind bezahlbar? Denn kaum einer bezweifelt, dass die neuen digitalen Möglichkeiten Städte besser machen können – wenn sie richtig eingesetzt werden. "Im Großen und Ganzen wird die Stadt leiser, sauberer und grüner werden", ist beispielsweise Alanus von Radecki überzeugt. Er ist Leiter der "Morgenstadt City Insights" (Morgenstadt Stadteinsichten), einem Forschungsvorhaben von neun Fraunhofer-Instituten. Es soll die Zukunft der nachhaltigen, lebenswerten und wandlungsfähigen Stadt vorausdenken.

Wie aber lassen sich sinnvolle Ideen finden? "Es geht nicht darum, bestimmte Produkte zu vermarkten", erläutert Radecki. "In unserem Zusammenschluss von Unternehmen, Städten und Fraunhofer-Forschungsinstituten hilft ein gemeinsamer Analyserahmen, Entwicklungsbedarf in Städten zu identifizieren. Individuelle Konsortien aus Firmen, Forschung und Städten erarbeiten dann die Lösungen."

Dieser Ansatz scheint sich nun auch bei den ersten Anbietern durchzusetzen. IBM beispielsweise setzt bei seiner Auftragsakquisition auf Wettbewerbe, "Smarter City Challenges" genannt. Städte können sich um eine kostenlose Analyse ihres Ist-Zustands bewerben. Um in den Genuss solcher Studien zu kommen, müssen die Bürgermeister überzeugend darlegen, dass sie im Verein mit ortsansässigen Unternehmen auch wirklich Veränderungen wollen und dass sie die technischen und finanziellen Möglichkeiten haben, um sich einen Umbau leisten zu können. Natürlich liefert IBM auch gleich Vorschläge zu Maßnahmen mit, die nach Ansicht des unternehmenseigenen Forscherteams die dringendsten Probleme lösen sollen – aber man muss sie ja nicht nutzen.

Immerhin rund 100 Städte weltweit hat das Unternehmen auf diese Weise innerhalb von drei Jahren zu seinen Kunden gemacht. Beispielsweise schlug der Konzern Vietnams Hauptstadt Ho-Chi-Minh-Stadt ein IT-basiertes Stadtmanagement-System vor, Mexikos zweitgrößter Metropolregion Guadalajara die digitale Vernetzung der Stadtverwaltung. Im vom Tsunami 2011 gebeutelten japanischen Sendai hat IBM das Kommunikationsnetz so umgebaut, dass es künftigen Katastrophen standhält und nebenbei mehr Bürgerbeteiligung erlaubt.

Siemens richtet in urbanen Regionen Stadtentwicklungszentren ein wie das "Center of Excellence" in London. Hier erforschen Unternehmensexperten neue Stadtteillösungen und stellen hauseigene Produkte zu Angebotspaketen zusammen. So entstand beispielsweise Londons Mautsystem für die Innenstadt: 180 Kameras am Rand der innerstädtischen Bezahl- zone und 50 Kamerafahrzeuge innerhalb der Zone nehmen alle Nummernschilder auf und gleichen über eine zentrale Datenbank ab, ob die tägliche Gebühr von 11,50 Pfund gezahlt wurde. Diese Überwachung senkte den Innenstadtverkehr um 20 Prozent.

Noch sind das nur Einzellösungen. Aber die Hoffnung ist, dass aus ihnen irgendwann tatsächlich ein neues Bild der Stadt entsteht – und zwar eines, das nicht an einen bewohnten Computer wie das südkoreanische Songdo erinnert. "Durch eine Zusammenführung von technik-, natur- und sozialwissenschaftlichen Kompetenzen kann das Verständnis für die Stadt als Gesamtsystem geschärft werden", erklärt Karl-Friedrich Ziegahn, Leiter des Bereichs "Natürliche und gebaute Umwelt" am Karlsruhe-Institut für Technologie KIT und Koordinator der Stadtforschungs-Initiative der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren.

Forschungsstrategen wie Ziegahn geht es darum, die Verwaltung und Organisation einer Stadt effizienter zu machen, Ressourcen und Energie zu sparen, Verkehrsflüsse zu optimieren, die Stadt besser gegen Katastrophen zu wappnen. Ganz nebenbei soll eine derart optimierte Stadt die Demokratie stärken. Denn dank der umfangreichen digitalen Infrastruktur sollen es Bürger einfacher haben, Ideen und Vorschläge mit der Stadtverwaltung und den örtlichen Unternehmen zu teilen.

Im besten Fall verbessert das nicht nur das Zusammenspiel zwischen Wirtschaft, Behörden und Einwohnern. Es schärft auch das Bewusstsein aller, für eine höhere Lebensqualität in der Stadt mitverantwortlich zu sein. Im Projekt "Citizen Sence" am Goldsmith College in London beispielsweise untersuchen Forscher das sogenannte "citizen sensing". Bürger sammeln Umweltdaten – etwa zur Luftverschmutzung – mithilfe von Smartphone-Apps. Die Wissenschaftler wollen wis-sen, ob die Methode das Bewusstsein der Stadtbewohner für ökologische Probleme schärft und ob die Datensammler ihr Verhalten daraufhin verändern.

Auf ähnliche Effekte hoffen Experten auch bei klugen Mobilitäts-Apps. Wenn sie die richtigen Informationen bieten, könnten sie die Bewohner dazu animieren, auf das Auto zu verzichten und so die Großstadtluft ein wenig sauberer machen. Als Vorbild gilt vielen Hamburg. Dort bündelt eine Verkehrs-App sämtliche Transportmöglichkeiten in einer Komplettübersicht. Egal ob Bus, U-, S-Bahn, Fähre, öffentliches Fahrrad, Kurz- oder Langzeitmietwagen oder Taxi: Der Dienst kombiniert all diese Verkehrsmittel und sortiert sie nach Preis, Schnelligkeit oder Bequemlichkeit. Der Hamburger Verkehrsverbund stellt seine Fahrpläne zur Verfügung, ein Dienst namens Switshh ergänzt die Angaben mit Fahrrad- und Mietwagenstandorten und den per GPS georteten Standplätzen von Car2go-Autos und Taxis. Letztere sind gleich über die App buchbar. Nach Angaben von Google Play wurde sie bereits mehr als 500.000 Mal heruntergeladen.

Dieses Beispiel für intelligente Vernetzung zeigt im Kleinen, wie Smart-City-Konzepte im Großen funktionieren könnten: alltagsnah, nutzerfreundlich und ohne Ängste vor Totalüberwachung. Ein zentrales Daten- und Überwachungszentrum ist für Anwendungen wie die Hamburger Verkehrs-App nicht nötig. (bsc)