Spaß aus der Leitung

Das amerikanische Start-up OnLive arbeitet mit großem Aufwand daran, klassische Spieleplattformen wie Konsolen oder PCs durch Server im Internet zu verdrängen. In den USA funktioniert der Internet-Dienst bereits, 2011 kommt er nach Europa.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 5 Kommentare lesen
Lesezeit: 8 Min.

Steve Perlman hat bereits eine lange und außergewöhnliche Karriere vorzuweisen. Nach einem geisteswissenschaftlichen Studium an der New Yorker Columbia University fing er 1985 bei Apple an, wo er führend an der Entwicklung der Multimedia-Fähigkeiten der Computerreihe Macintosh mitarbeitete. Nach diversen bekannteren und unbekannteren Elektronikunternehmen startete er zehn Jahre später die Firma WebTV, die das Internet auf den Fernseher holen wollte. Sie wurde 1997 von Microsoft für 500 Millionen Dollar übernommen, Perlman ist seither ein reicher Mann.

Was der IT-Experte heute macht, dürfte allerdings das bislang spektakulärste Vorhaben seiner Karriere sein: Er gedenkt, mit seiner neuen Firma OnLive die Videospielebranche umzukrempeln. Denn obwohl mittlerweile fast überall Breitband-Internet verfügbar ist, geht es im digitalen Spielbetrieb immer noch recht klassisch zu: Die Kunden kaufen spezialisierte Hardware, etwa Konsolen wie die PlayStation 3, die Xbox 360 oder einen spielefähigen PC, während die zugehörige Software auf DVDs in den Handel gelangt.

Zwar beginnen die großen Hersteller seit einiger Zeit, ihre Systeme internetfähig zu machen, Sony beispielsweise mit dem "PlayStation Network" und Microsoft mit "Xbox Live". Von diesen Internet-Plattformen lassen sich erste größere Spiele direkt auf die Konsolen herunterladen. Die Mehrzahl der Umsätze wird aber nach wie vor mit klassisch im Laden angebotener Ware gemacht. Und das hat Nachteile: Zum einen, weil Netz-Piraten die Games kostenlos per Internet verteilen; ihre Raubkopien lassen sich auf manipulierten Konsolen abspielen. Zum anderen, weil große Spieleketten wie Gamespot gebrauchte Ware von Gamern ankaufen, um sie dann mit hohem Gewinn – und ohne einen Cent extra an die Spielefirmen zu zahlen – an preisbewusste Konsumenten weiterzuveräußern.

Perlman glaubt, eine Lösung für all diese Probleme gefunden zu haben. Ebenso wie die Konsolenhersteller plant er, die Spiele übers Netz anzubieten. Aber er will dabei noch einen gewaltigen Schritt weiter gehen: Games sollen künftig nicht mehr lokal auf einem Computer, einer Konsole oder einem Handy laufen, wie man dies seit Jahrzehnten gewohnt ist, sondern auf Servern im Internet – in der "Cloud". Dem Nutzer verspricht Perlman dabei ein Paradies an Spielen: Jeder aktuelle Titel und jedes wichtige ältere Spiel soll über den "OnLive" getauften Dienst vertrieben werden. Als Gegenstelle benötigt der Kunde nur noch sehr einfache Hardware – das kann ein billiger Mac oder ein PC sein, auf dem ein wenige Megabyte großes Anzeigeprogramm (Player) läuft. Auch Fernseher will Perlman beschicken: mit einer sogenannten "MicroConsole", die nur wenige Euro kostet und nichts weiter als ein Decoder ist, der am Internet hängt. Drahtlose Controller, die man auch an Mac und PC anbinden kann, ermöglichen einen Spielkomfort, wie man ihn von normalen Konsolen her kennt.

Damit das alles so reibungslos funktioniert, wie Gamer es von Vor-Ort-Geräten gewöhnt sind, haben Perlman und sein mehrere Dutzend Mann starkes OnLive-Team einen neuen, proprietären Video-Kompressionsalgorithmus (Codec) entwickelt, der eine besonders schnelle Übertragung erlaubt. Solange sich ein Spieler maximal 1600 Kilometer vom Rechenzentrum entfernt befindet, soll er verzögerungsfrei arbeiten können; mit einer Internet-Bandbreite von fünf Megabit sollen selbst HD-Darstellungen möglich sein. Das "Spielen in der Wolke" fällt angeblich gar nicht auf.

In den Rechenzentren, von denen Perlman auf der Welt Dutzende aufbauen will, stehen Maschinen mit allerneuester Grafik-Hardware und damit auch mit bestmöglicher Darstellungsqualität. Sie wurden speziell auf das Ausliefern von Games optimiert – mit von OnLive eigens entwickelter Technik. Der große Unterschied zwischen OnLive und allen anderen Online-Gaming-Diensten: Das gesamte Spiel wird als Videostream zum Kunden ausgeliefert, direkt aus der Cloud. Der Kunde braucht sich nicht mehr um irgendwelche Geräte zu kümmern.

Bislang sieht einiges danach aus, dass OnLive ein Erfolg werden könnte. Es ist Perlman gelungen, nahezu alle wichti-gen Spielefirmen mit ins Boot zu holen, darunter EA, Take-Two, Ubisoft, Eidos, THQ und Epic. Er hat mit ihnen Verträge abgeschlossen, die den Direktvertrieb neuer Spiele ab Verkaufsstart der gepressten Version erlauben. Angelockt wurden die Hersteller vor allem vom Versprechen besserer Margen, auch gibt es bei OnLive kein Raubkopierer- und Verleih- problem mehr.

Das Geschäftsmodell ist schnell erklärt: Spieler kaufen entweder einen "Full PlayPass", mit dem ein ständiger Zugriff auf einen Titel möglich ist; zum Beispiel 40 Dollar für den Vollpreistitel "Arkham Asylum". Oder sie mieten ein Spiel für einige Tage, im Falle von "Arkham Asylum" würde das fünf Dollar für drei Tage kosten. Um neue Titel kennenzulernen, darf der Kunde mitunter auch eine Runde gratis spielen. Zusätzlich zu den "on demand" abrufbaren Games hat OnLive eine Community aufgebaut, in der sich Spieler untereinander austauschen und miteinander wetteifern können – in Ranking-Listen oder Spielen für mehrere Mitstreiter.

Seit Mitte Juni erprobt Perlman sein System im Live-Betrieb, der zunächst auf die USA beschränkt ist. Damit die Games wirklich verzögerungsfrei ankommen, bedarf es neben dem neuen Video-Codec auch eines gut funktionierenden Bandbreitenmanagements. Es sorgt dafür, dass der Datenfluss zum Kunden möglichst konstant bleibt. Ob sich dieses Management bewährt, wenn OnLive erst einmal eine Million Kunden hat, lässt sich bislang noch nicht sagen. Doch erste Tester waren voll des Lobes: So sei etwa ein grafisch anspruchsvoller Titel wie "Assassin's Creed II", mit einem grafisch eher mäßigen Apple Mac in der Cloud gespielt, nicht von der lokalen Version auf einem PC zu unterscheiden, berichtete die Computerzeitschrift "Macworld".

Es gibt allerdings auch Kritiker. Das Spieleportal "Eurogamer" führte zusammen mit dem Videospezialisten Digital Foundry Latenztests durch – untersuchte also, wie lange ein Bild vom OnLive-Rechenzentrum in der Cloud zum Benutzer braucht. Die Tester kamen dabei auf rund 150 Millisekunden Übertragungszeit. Das wäre deutlich mehr als die von Perlman behaupteten maximal 40 Millisekunden – und könnte sich bei heißen Actiontiteln negativ auswirken, wenn es bei der Jagd nach dem Gegner auf Zehntelsekunden ankommt. Zudem hängt das Spielerlebnis stark davon ab, wie gut die eigene Anbindung an das Internet und die des Providers zum OnLive-Rechenzentrum ist.

Wer derzeit versucht, von Europa aus auf OnLive zuzugreifen, bekommt zum Beispiel nur eine Fehlermeldung. Die Latenz sei zu groß, um ungestört spielen zu können, heißt es dort. Der große europäische Auftritt für OnLive soll aber noch 2011 erfolgen, Probeversionen für einen eingeschränkten Kundenkreis sollen Ende dieses Jahres in Luxemburg und Belgien installiert werden. Für die Testläufe mit diesen Betaphasen hat sich OnLive die großen örtlichen Telekom-Konzerne als Partner ausgesucht, sie bauen derzeit die OnLive-Infrastruktur in ihren Rechenzentren auf. Etwas später ist dann die Einführung in Großbritannien und Deutschland vorgesehen.

OnLive ist indes nicht der einzige Wettbewerber, der den Markt der neuen Streaming-Spieledienste erobern will. Gaikai, ein zweiter Anbieter aus den USA, plant im Dezember 2010 ebenfalls eine Betaphase. Ob er technisch mit OnLive mithalten kann, ist noch unklar – das Start-up hält Details bislang unter Verschluss, auch zu seiner Finanzierung.

Von OnLive hingegen ist bekannt, dass es zweistellige Millionensummen von Risikokapitalinvestoren eingeworben hat. Außerdem wird es von seinen lokalen Partnern unterstützt. So hat die British Telecom kürzlich 2,6 Prozent des Unternehmens übernommen – dem baldigen Start auf der Insel scheint also tatsächlich nichts mehr im Wege zu stehen. (bsc)