Staatliche IT: Warum es so schwer ist, gute Systeme zu entwickeln

Überall auf der Welt kämpfen Regierungen damit, vernünftige Software aufzusetzen. Fünf US-Experten sprechen über die Hintergrunde.

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(Bild: MS Tech / Unternehmen)

Lesezeit: 12 Min.
Von
  • Cat Ferguson
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Das Pandemie-Jahr war lang und herausfordernd – und es ist noch nicht vorbei. Es hat unter anderem demonstriert, wie schlecht staatliche Technik noch immer funktioniert. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind hier ein gutes Beispiel: Manche Versuche sind komplett gescheitert, andere mussten ständig von Regierungen ausgebessert werden. Wirtschaftsvertreter und inoffizielle Hilfsgruppen haben sich zusammengetan, um vorhandene Versorgungslücken zu stopfen.

Es wurden Warn-Apps entwickelt, die eine potentielle Ansteckungsgefahr mit Corona identifizieren sollten, ohne dabei die Privatsphäre der Nutzer zu verletzen. US-Webseiten für die Beantragung der Arbeitslosenhilfe, auf denen es ohnehin schon rege zugeht, fielen reihenweise einfach aus. Parallel dazu streikte regelmäßig die IT im fragmentierten Gesundheitswesen der USA. Während all dem mussten Politiker, Entwickler und Amtsträger die ihnen übertragenen persönlichen Daten sicher verwalten – und, das war vielleicht die größere Herausforderung, die Öffentlichkeit davon überzeugen, dass dies vernünftig vonstatten ging.

Fallbeispiel USA: Was würde es brauchen, damit Regierungstechnologie gut funktioniert? Was sind die Grundlagen für eine gesunde technische Infrastruktur, über die die benötigte Hilfe auch ankommt? Fünf Expertinnen und Experten helfen, nachzuvollziehen, warum es so schwierig ist, gute staatliche Technik aufzubauen und geben Ratschläge für eine technische Infrastruktur, die gut für die Menschen funktionieren sollte, die auf sie angewiesen sind.

Liana Dragoman ist Direktorin des Service Design Studio der Stadt Philadelphia. Die Einrichtung arbeitet an einem besseren Zugang für Bürger zu staatlichen On- als auch Offline-Angeboten. Cyd Harrell ist Civic-Design-Beraterin und ehemalige Stabsschefin von 18F, einer US-Bundesbehörde, die die Zusammenarbeit bei Technologieprojekten fördert. Dan Hon ist ehemaliger Redaktionsleiter von "Code for America" und Direktor von Very Little Gravitas, einer Beratungsfirma, die Regierungen dabei hilft, ihre Technik und Gesetze zu modernisieren. Sha Hwang ist COO und Mitgründer von Nava Public Corporation, einem staatlichen Technologieunternehmen, das nach der desaströsen Umsetzung von Healthcare.gov zur Reparatur gegründet wurde. Alexis Madrigal ist Autor bei The Atlantic und Mitgründer des COVID Tracking Projects, einem Freiwilligenvorhaben, das Corona-revelante Daten sammelt und zugänglich macht.

Cyd Harrell: "Regierung" bezeichnet in den USA sehr viele verschiedene Dinge. Neben der US-Bundesregierung gibt es 50 Länderregierungen, 3000 Landkreise – die jeweils eine andere Rolle in verschiedenen Teilen des Landes spielen – und 20.000 Gemeinden. So vielen verschiedenen Parteien gehört ein Teil der Daten, der mitbestimmt, ob jemand an einem bestimmten Ort berechtigt ist, einen Termin zu bekommen für eine Impfstätte. Es sind nicht nur Regierungen, sondern Krankenhäuser, Kliniken und Apotheken; sie alle müssen Einigungen finden, Daten miteinander zu teilen und ihre Systeme müssen zusammenarbeiten – was sie in aller Regel aber nicht tun. Bei all dem ist Web Design vielleicht der einfachste Teil, einschließlich der Verantwortung für die Menschen, die keinen Internetzugang haben.

Alexis Madrigal: Oftmals ist die eigentliche Technik nicht so kompliziert. Das Problem ist das System, das ihr zugrunde liegt. Wenn die Bundesregierung Daten will, die Länder normalerweise aber nicht für deren eigene Arbeit abfragen und speichern, dann muss es jemanden geben, der das tut. Doch während eines Notfalls, wenn jeder alle Hände voll zu tun hat, hat das keine Priorität. Ohne ein nationales Gesundheitssystem gibt es keine Möglichkeit, einfach Teste oder allgemeine Infektionsfälle nachzuvollziehen.

Sha Hwang: Die Arbeit mit Legacy-Systemen nenne ich "Software-Archäologie". Man denke etwa an Häuser, die gebaut wurden, bevor die städtische Infrastruktur existierte – die wurden nicht mit Anschluss an die Stadtverteilnetze oder das Stromnetzwerk gebaut. Man muss also die eine Person finden, die dieses System seit 30 Jahren bewahrt hat, die eine Kalkulationstabelle immer wieder aktualisiert hat, mit einer Millionen Reihen und verrückten Farb-Codes.

Bei neuen Systemen gibt es eine Phase, in der man oft hört, dass Käufer aus der Regierung nur einen Partner wollen, der dann zum Sündenbock werden kann, wenn was falsch läuft. Große Anbieter wie Deloitte und Accenture bringen all die Menschen mit, die ein Projekt benötigt. Aber indem man die potentielle Verantwortung nach außen verlagert, geben Betreiber auch das ganze technische Fachwissen ab. Sie sperren sich sozusagen ein. Wenn das System versagt, müssen sie sich auf die Anbieter verlassen, die ihnen das Loch gegraben haben. Nur dann kommen sie da wieder raus.

Dan Hon: Niemand wird dafür gefeuert, Deloitte oder IBM angeheuert zu haben. Und wenn Anbieter immer wieder die gleichen Aufträge für Dinge bekommen, die sie schlecht erledigt haben, gibt es keinen Anreiz für sie, nicht weiter miese Systeme zu bauen. Regierungsanfragen für Angebote sind häufig so verfasst, dass sie nur zu einem oder zwei Anbietern passen. Das sind dann so "Ja"/"Nein"-Boxen für Voraussetzungen wie "Der Anbieter muss für ein Gesundheitssystem gearbeitet haben, das mehr als 500.000 Menschen bedient." Mir ist doch egal, ob dieses System existiert – ich will aber wissen, ob die Menschen, die es nutzen, damit klarkommen.

Liana Dragoman: Viele Anwendungen sind gemessen an der Funktionsweise einer Regierung konzipiert und entsprechen eben nicht den Bedürfnissen der Bewohner. Wenn man sich um eine Genehmigung bemühen will, ein bestimmtes Fußballfeld nutzen zu dürfen, dann sollte man dafür nicht wissen müssen, welche bestimmte Abteilung von Parks & Rec einem diese spezielle Genehmigung erteilen kann. Bewohner wollen einfach auf die Webseite der Stadt gehen und ein Formular ausfüllen. Navigation durch komplexes Design

Hon: In der Impfstoffverteilung spielen viele komplexe Regularien eine Rolle. Aber auf der Webseite oder in der App wird diese Erfahrung runtergebrochen auf die Frage, wieso man nicht herausfinden kann, ob man impfberechtigt ist. Man will ja nur einen Termin! Wut und Frust der Menschen sind an dieser Stelle absolut angemessen. Aber so wurde das System entworfen. In den USA gibt es diese Obsession mit dem Föderalismus und die Delegation von Macht an immer kleinere Behörden. Man wollte das, man baute sich das auf. Und das kommt dabei raus. Datentracking über viele Länder

Madrigal: Im letzten Jahr hat die US-Regierung 750 Millionen Dollar für einen Haufen Antigen-Tests ausgegeben, der an die Länder geschickt wurde. Die kamen mit einer App, also konnte man sein Testergebnis auf dem Handy sehen. Aber es gab keine Möglichkeiten für die Stätten, die den Test durchführten, einen Bericht darüber an die Regierung zu senden. Es gab nicht mal Identifikationsnummern auf den Tests. Die Länder mussten ihr eigenes Nachverfolgungssystem bauen. Sie haben Nummern auf die Tests geklebt, sodass Standorte durchgeben konnten, welche bereits verwendet wurden.

Der US Digital Service hat schließlich ein Testaufzeichnungssystem namens SimpleReport erstellt, von dem ich gehört habe, dass es ziemlich gut funktioniert. Doch wir haben bis heute keine Ahnung, wie viele Antigen-Tests in den USA durchgeführt wurden. Nichtmals eine grobe Schätzung. Dabei scheint das doch wie etwas, das man lieber nachverfolgen sollte.

Dragoman: Als Philadelphia in den Lockdown ging, arbeiteten wir mit einem unabhängigen Stadtrat zusammen, der mit den Einwohnern und den Geschäften über Zahlungspläne bei lang überfälligen Rechnungen verhandelte. Das ist ein sehr wesentlicher Dienst – wenn Menschen keine Anhörung bekommen, könnten sie Versorgungen wie Strom verlieren, ihre Arbeitslizenz oder ihr Zuhause. Wir haben jedem einen Laptop besorgt, doch die bestehenden Prozesse beruhten auf papierbasierten Workflows und persönlichen Interaktionen. Es gibt einen physischen Ordner mit all den Bescheiden, Informationen und der Kommunikation zu einer Petition und einen physischen Papierkalender, den die Mitarbeiter zur Terminierung nutzen.

Die einzige, schon vorher existierende Technik war ein System, das Anerkennungs- und Beschlussbescheide an Einwohner verschickte. Um das mit Excel- und Word-Dateien nachzubilden, mussten Leute dafür auf Sharepoint trainiert werden. Erster Schritt: Sharepoint öffnen. Zweiter Schritt: Dokument kreieren. Als das Büro wieder eröffnete, waren manche der Fälle vollständig auf Papier dokumentiert und andere komplett online. Wir mussten den Workflow völlig neugestalten, damit die Belegschaft arbeiten konnte.

Harrell: Die meisten Arbeitslosensysteme wurden mit der Annahme errichtet, dass es einen starken Arbeitsmarkt gibt und Leute, die sich für Leistungen bewerben, wahrscheinlich versuchen, das System auszutricksen. Als es in den USA dann plötzlich eine Arbeitslosigkeit von 25 Prozent gab, konnte das System sich nicht einfach dahingehend ändern, Menschen an ihr Geld kommen zu lassen.

Hwang: Wir haben kürzlich mit einem Land an deren neuem Gesetz für Krankenurlaub und Elternzeit gearbeitet. Um zu gewährleisten, dass Leistungsbezieher auch wirklich darauf angewiesen sind, sollte ihre Bedürftigkeit wöchentlich neu zertifiziert werden. Wir mussten den Gesetzgebern erst mal verständlich machen, dass dies einfach Arbeitszeit für Sachbearbeiter bedeutet und auch, dass Familien mit Säuglingen jede Woche nachweisen müssten, dass sie noch immer ein Neugeborenes hatten.

Wir haben sie gefragt, was sie spezifisch versuchen zu verhindern und haben sie überzeugt, die Sprachregelung so zu verändern, dass stärker eingegrenzt wird, wer sich jedes Mal aufs Neue zertifizieren lassen muss. Das ist alles sehr komplex. Manchmal muss man das feiern, wenn ein Punkt im Entwurf einer Verordnung geändert wird.

Madrigal: Man kann sich nicht einfach darauf verlassen, dass Technik schon den Zugang zu staatlichen Leistungen verbessern wird. Es wird nicht funktionieren, wenn es Bestimmungen gibt, die dafür gemacht sind, den Zugang zu Hilfsleistungen zu erschweren. Aktuell gibt es Druck, diese Art der Richtlinien zu verändern, aber erst mal müssen wir ehrlich sein, wofür die gemacht sind.

Hwang: Senator Ron Wyden hat kürzlich einen Gesetzesentwurf zur Modernisierung des Arbeitslosengeldes vorgelegt – allein das zu lesen war ziemlich toll. Es ist ein wirklich technisch versiertes Gesetz. Da wird tatsächlich darüber nachgedacht, mehr technische Kapazitäten innerhalb der Agentur aufzubauen und den Verwaltungsaufwand zu minimieren. Bislang wurde zu wenig investiert, um sich dieser modernen Umgebung anzupassen. Ohne interne technische Kenntnisse wird es weiterhin fehlgeschlagene Versuche und gebrochene Versprechen geben.

Hon: Man darf sich das nicht so vorstellen von wegen "wir bauen während der Pandemie mal Computersysteme". Es geht darum, den Regierungsauftrag während Corona zu erfüllen und das kann man nicht ohne Technologie. Corona ist so eine Art Crashtest für unsere Regierungssysteme. Um diese Fehler tatsächlich zu reparieren und dafür zu sorgen, dass sie nicht wieder passieren, müssen Techniker Teil der betroffenen Abteilung sein– nicht nur, um dafür zu sorgen, dass die Drucker laufen, sondern auch für IT-Projekte.

Dragoman: Wenn man Probleme mit der Lieferung von Impfstoffen beheben will, muss man sich Standorte ansehen und mit den dort Arbeitenden und denen, die geimpft werden, sprechen. Man muss sich die Haftnotizen an den Computern anschauen, all die einseitigen Dokumente, die Millionen Mal kopiert wurden, um das Programm zu erklären. All die Workarounds, die sich diese brillanten Menschen schon überlegt haben, damit sie ihren Job machen können. Dann sollte man in die Leute investieren, die diese ganzen Lehren auch implementieren können.

Wenn es Regierungen wichtig ist, inklusiv zu sein, sollten sie auch aufpassen, wie Regierungsinformationen kommuniziert werden. Es geht nicht nur um verschiedene Sprachen, sondern auch um die Anerkennung dessen, was manche vielleicht gerade durchleben. Wenn jemand in einer Krise steckt, dann können sie dem zwar ein fünfseitiges Dokument reichen, aber das wird möglicherweise nicht gelesen oder verstanden.

Harrell: Es ist jetzt wichtiger denn je alles Mögliche zu tun, um die Bedürfnisse der Nutzer zu verstehen. Und ihnen gut zu dienen.

Die Originalversion dieses Beitrags wurde im Rahmen des "Pandemic Technology Projects" von der Rockefeller Foundation unterstützt.

(bsc)