Strom aus Atombomben

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Doch bei allem zur Schau gestellten Optimismus diskutierten die Teilnehmer der IAEA-Konferenz im März in Paris auch über die Gefahren, die mit den schnellen Reaktoren verbunden sind: In ihnen muss der Reaktorkern dichter gepackt und mit höher angereichertem Brennstoff beladen werden, damit die Neutronen eine Kettenreaktion auslösen. Energiedichte und Betriebstemperatur sind in solchen Reaktoren also sehr viel höher als in herkömm-lichen Reaktoren gleicher Leistungsklasse. Der Reaktor ist bei einem Unfall deshalb schwerer zu beherrschen.

Um dem entgegenzuwirken, setzen die Atom-Ingenieure unter anderem auf flüssiges Natrium als Kühlmittel. Im BN-800 umgibt es den Reaktorkern und überträgt seine Energie über einen Wärmetauscher an einen zweiten, nicht radioaktiven Natriumkreislauf, mit dem außerhalb des Reaktors Dampf erzeugt wird. So soll sichergestellt werden, dass kein radioaktives Natrium in die Umgebung gelangt. Generell kommen als Kühlmittel zwar auch andere flüssige Metalle infrage. Mit Natrium haben Atom-Ingenieure jedoch am meisten Erfahrungen.

Das Metall kann die große Hitze aus dem Reaktorkern gut abführen, lässt sich ohne große Probleme pumpen und greift den Stahl der Leitungen nicht an. Zudem siedet Natrium erst bei einer Temperatur, die weit über dem Arbeitspunkt der Reaktoren liegt – und erzeugt daher keinen extrem hohen Druck im Kühlmittelkreislauf. Auf diese Substanz setzen daher auch die indischen Konstrukteure. Sein großer Nachteil: Natrium reagiert heftig mit Wasser und Sauerstoff. Das flüssige Natrium muss also vor allem im Dampferzeuger besonders gut isoliert werden.

Dass dieses Problem nicht nur rein theoretischer Natur ist, zeigen zahlreiche Vorfälle am BN-600. Bis 1997 gab es dort insgesamt 27 Natriumbrände. Im Interview mit Technology Review verweist Sergey Boyarkin, ehemaliger stellvertretender Direktor des russischen Atomkonzerns Rosenergoatom, jedoch auf bauliche Maßnahmen, mit denen die Konstrukteure die Probleme in den Griff bekommen hätten.

Mindestens genauso kritisch ist jedoch die Tatsache, dass natriumgekühlte schnelle Reaktoren oftmals einen "positiven Void-Koeeffizienten" haben. Der harmlos klingende Begriff beschreibt ein hässliches Problem: Bei einem Unfall schützt Natrium deutlich schlechter vor einer Kernschmelze als das Kühlwasser eines konventionellen AKWs. Denn Wasser hat dort neben seiner Kühlfunktion noch eine weitere, entscheidende Aufgabe: Es erleichtert die Kernreaktion. Entweicht Wasser, weil der Kühlkreislauf leckt, wird die Kernreaktion zunächst schwächer. Ganz anders in einem schnellen Reaktor: Verliert er Kühlmittel oder treten innerhalb des Reaktorbeckens Blasen ("Void") auf, kann sich die Kettenreaktion weiter beschleunigen. Dabei steigt die Temperatur im Reaktor an, was wiederum zu einem weiteren Verlust an Kühlmittel führen kann – ein Teufelskreis, der mit einer Kernschmelze enden kann.

Am 21. Januar 1987 kam es beim BN-600-Reaktor tatsächlich zu einer Beschleunigung der Kettenreaktion, weil sich offenbar durch Korrosion Fremdkörper im Kühlkreislauf angesammelt hatten. Sergey Shepelev, Vertreter des staatseigenen Unternehmens OKBM, das unter anderem den BN-600-Reaktor gebaut hat, weigerte sich während einer Diskussion auf der IAEA-Tagung, diesen Störfall zu kommentieren. Im Anschluss erklärte er jedoch, es gäbe "viele unterschiedliche Schilderungen" dieses Vorfalls, und niemand könne sagen, welche "wirklich wahr" sei. Klar ist immerhin: Den russischen Technikern gelang es, die Situation wieder unter Kontrolle zu bekommen. Filter und eine verbesserte Reinigung während der Wartung sollen mittlerweile dafür sorgen, dass der Kühlkreislauf nicht mehr verstopft. Und um ganz sicher zu gehen, wollen die russischen Techniker den Reaktorkern des neuen BN-800-Reaktors mit einer ausgeklügelten Anordnung aus Brennstäben und natriumgefüllten Rohren bestücken, sodass im Reaktor selbst bei einem Kühlmittelverlust keine Kettenreaktion droht. Zumindest hätten das Modellrechnungen gezeigt.

Die indischen Techniker setzen bei ihrem Reaktor dagegen auf mehrfach redundante, passive Sicherheitssysteme. Absorberstäbe, die im Notfall Neutronen einfangen und damit die Kettenreaktion unterbrechen, werden von Elektromagneten über dem Reaktorkern gehalten. Falls die interne Stromversorgung des Kraftwerks ausfällt – eines der Hauptprobleme in Fukushima –, fallen die Stäbe automatisch in den Reaktorkern und schalten ihn ab. Vier Notfall-Kühlkreisläufe, die nur mithilfe von Konvektion funktionieren, sollen die Nachwärme aus dem Reaktorkern abtransportieren können. Die Kreisläufe sind so ausgelegt, dass schon zwei davon im Notfall reichen würden. (wst)