Therapie statt Abtreibung?

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Die Genmuster in Föten mit Down-Syndrom ließen ein hohes Maß an oxidativem Stress erkennen, ein Zeichen dafür, dass Zellen beschädigt wurden. "Wir alle haben oxidativen Stress, aber unsere Systeme kümmern sich darum", erklärt Bianchi. Die Frage war also: "Gibt es in einem Fötus mit Down-Syndrom mehr davon, oder kommt er damit einfach nicht zurecht?" Bianchis Hypothese: Das abnormale biochemische Umfeld könnte Stammzellen schädigen, die sonst neue Neuronen bilden würden. Bianchi sucht daher nach Medikamenten, die den oxidativen Stress verringern und die Neurogenese zumindest teilweise "retten" können. Dabei beschränkt sie sich auf Präparate, die bereits für andere Zwecke genehmigt wurden und schon auf dem Markt sind.

Als ich Bianchi in ihrem Labor in Boston besuche, arbeitet sie mit braunen Mäusen, von denen einige eine dem Down-Syndrom ähnliche Krankheit haben. Von den Müttern erhielt eine Gruppe ein zugelassenes Medikament. Gefunden hat ihr Team die Kandidaten in einer Datenbank des Broad Institute, einem weiteren Bostoner Forschungszentrum. Die Datenbank dokumentiert, wie 1300 unterschiedliche Wirkstoffe auf die Genaktivität von im Labor gezüchteten menschlichen Zellen wirken. Bianchis Gruppe filterte zehn Wirkstoffe heraus. In ihrem Labor werden sie mit Nahrung vermischt den Mäusen verabreicht. Darunter finden sich auch trächtige Tiere, von deren Nachkommen etwa jeder zweite eine dem Down-Syndrom ähnliche Krankheit hat.

Bei meinem Besuch greift Bianchis Mitarbeiter Faycal Guedj mit einer behandschuhten Hand einen der Nager, der mit 53 Millimetern ungewöhnlich klein zu sein scheint. Die Maus braucht 17 Sekunden, um sich vom Rücken auf den Bauch zu drehen. In einem anderen Test ist sie gerade einmal stark genug, um drei Sekunden lang an einem Metalldraht zu hängen. Beides sind Hinweise, dass es sich um eine Down-Maus handelt. Eine andere kann sich fast acht Sekunden am Draht halten und schafft die Drehung in flotten vier Sekunden.

Von den zehn von Guedj und Bianchi eingesetzten Wirkstoffen sind zwei besonders vielversprechend. Einer davon ist Apigenin, das in Pflanzen zu finden ist, den zweiten möchte Bianchi noch nicht öffentlich nennen. Beide haben eine therapeutische Wirkung gezeigt, aber noch keinen Durchbruch gebracht. Unabhängig davon, welche Erfolge sie erzielen, glaubt Bianchi nicht, dass die Therapie die äußere Erscheinung von Menschen mit Down-Syndrom verändern wird. Auch mit der Verringerung der Herzprobleme, wie sie bei etwa jedem zweiten betroffenen Baby auftreten, rechnet sie nicht.

Bianchi ist nicht die Einzige, die sich auf diesen Weg begeben hat. Die Italienerin Renata Bartesaghi vermeldete 2014 bemerkenswerte Ergebnisse, nachdem sie den Wirkstoff Fluoxetin an einem Mausstamm mit einer Down-ähnlichen Krankheit getestet hatte. Das Antidepressivum, in den USA bekannt unter dem Markennamen Prozac, verbessert die Verfügbarkeit von Serotonin im Gehirn, einem für die Entwicklung von Neuronen wichtigen Botenstoff. Die italienische Forscherin berichtete in der Fachzeitschrift "Brain", dass die betroffenen Mäuse direkt nach der Geburt und 45 Tage später eine normale Zahl an Neuronen gehabt hätten.

"Sie haben sich genau wie normale Mäuse verhalten", sagt Bartesaghi: "Sie waren perfekt." Ausgehend von diesen Forschungsergebnissen bereiten Ärzte am University of Texas Southwestern Medical Center in Dallas derzeit eine kleine randomisierte, kontrollierte Studie mit 21 Schwangeren vor, deren Föten Vorsorgeuntersuchungen zufolge am Down-Syndrom leiden. Die Kinder sollen das Medikament auch noch nach der Geburt zwei Jahre lang erhalten. Matt Byerly, der an dem Projekt beteiligt ist, hält das in der Vergangenheit nicht unumstrittene Antidepressivum für so sicher, dass seiner Meinung nach der Studie nichts im Wege steht.

Bianchi bezeichnet Renata Bartesaghis Daten als beeindruckend. Allerdings zögert sie, hohe Dosen von Prozac an Schwangere zu verabreichen, die keine psychischen Krankheiten haben. Die Studie sieht nicht weniger als 80 Milligramm pro Tag vor, das Vierfache der normalen Tagesdosis. Aber gerade bei Therapien an Föten liegen die Sicherheitsschranken hoch, sagt sie. Zumal das Down-Syndrom keine unmittelbar lebensgefährliche Krankheit ist.

Ob jedoch Bianchi eine bessere Alternative finden kann, ist noch unklar. Selbst wenn die Studien mit Mäusen zu aussichtsreichen Kandidaten führen, haben die Ergebnisse nur eine begrenzte Aussagekraft für den Menschen. Melissa Parisi, Leiterin des Bereichs Lern- und Entwicklungsschwierigkeiten an den National Institutes of Child Health and Human Development der USA, bezeichnet die Arbeiten von Bartesaghi und Bianchi zwar als "sehr vielversprechend". Eine Therapie könne aber noch weit entfernt sein: "Bei Mäusen haben wir ALS schon tausendmal geheilt, aber es gibt immer noch keine Behandlung für Menschen. Menschen sind sehr viel komplizierter."

Aber selbst wenn die klinischen Studien erfolgreich sind, steht eine mindestens ebenso entscheidende Frage im Raum: Sollte man die Ungeborenen wirklich behandeln? Eltern würden sich fragen, was es bedeutet, schon im Mutterleib Einfluss auf die geistigen Leistungen zu nehmen. Amy Julia Becker, die im US-Bundesstaat Connecticut lebt und häufig über das Down-Syndrom schreibt, hat selbst eine Tochter mit der Krankheit. Eine Behandlung gegen Herzprobleme würde sie eher unterstützen, sagt sie. Aber für eine bessere Kognition? "Es gibt da die Vorstellung, dass sie stärker als Herzprobleme darauf verweist, wer man ist." (bsc)