Twitter-Insider: Warum die Plattform zusammenbrechen könnte

Nach der Übernahme durch Elon Musk musste der Kurznachrichtendienst massiv Federn lassen. Doch was machen die vielen Kündigungen mit der Stabilität?

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(Bild: Stephanie Arnett/MITTR)

Lesezeit: 11 Min.
Von
  • Chris Stokel-Walker
Inhaltsverzeichnis

Am 4. November, nur wenige Stunden nachdem Elon Musk rund die Hälfte der 7500 Twitter-Mitarbeiter entlassen hatte, sahen Nutzer erste Anzeichen dafür, dass hier etwas nicht mehr stimmt beim Kurznachrichtendienst. Genauer: Es waren die Retweets.

Twitter hatte diese im Jahr 2009 eingeführt und machte aus einer organischen Sache, die die Menschen zuvor händisch betrieben – das Einfügen des Benutzernamens und des Tweets einer anderen Person mit den vorangestellten Buchstaben RT – zu einer Standardfunktion. In den folgenden Jahren hatten sich der Retweet und sein entfernter Cousin, der Zitat-Tweet (der im April 2015 eingeführt wurde), dann zu zwei der am häufigsten verwendeten Mechanismen auf Twitter entwickelt.

Doch am Freitag dann sahen einige Nutzer, die den Retweet-Button drückten, eine Merkwürdigkeit. Es schien, als seien die manuellen Retweets zurückgekehrt. Das war kein nostalgisches Geschenk von Twitter-Neubesitzer Musk. Vielmehr wurden damit erste Risse im Code-Gebäude Twitters sichtbar. Ein erster "Blip" auf dem Seismographen, der einem größeren Erdbeben vorweggeht.

Eine gigantische Technologieplattform wie Twitter besteht aus sehr vielen voneinander abhängigen Teilen. "Die größeren katastrophalen Ausfälle sind zwar aufregender, aber das größte Risiko sind doch die kleineren Dinge, die anfangen, aus dem Leim zu gehen", sagt Ben Krueger, Ingenieur mit einer Spezialisierung für Website-Stabilität, der mehr als zwei Jahrzehnte Erfahrung in der Technologiebranche hat. "Das sind sehr große und sehr komplizierte Systeme." Krueger sagt, dass eine Präsentation von Twitter-Mitarbeitern aus dem Jahr 2017 eine Statistik enthielt, die besagte, dass mehr als die Hälfte der Backend-Infrastruktur des Dienstes für die Speicherung von Daten verwendet wurde.

Auch wenn viele von Musks Gegnern der Plattform die Implosion wünschen, würde der Zusammenbruch eines Unternehmens wie Twitter nur schrittweise erfolgen. Für diejenigen, die sich damit auskennen, zeichnen sich aber entsprechende Hinweise ab.

Ob es sich nun um manuelle RTs handelt, die für einen Moment erscheinen und sich dann langsam in ihre Standardform verwandeln, um sich geisterhaft verändernde Follower-Zahlen oder um Antworten, die sich einfach weigern zu laden – kleine Fehler tauchen mehr und mehr auf. Sogar die aktuellen Twitter-Regeln, auf die Musk am 7. November verwies, gingen unter der Last von Millionen von Augen vorübergehend offline. Kurz gesagt, der Dienst wird unzuverlässiger.

"Manchmal erhält man Benachrichtigungen, die leicht daneben liegen", sagt ein Ingenieur, der derzeit noch bei Twitter arbeitet. Er ist besorgt über die Art und Weise, wie die Plattform reagiert, nachdem große Teile seiner Kollegen, die zuvor für den reibungslosen Betrieb der Seite zuständig waren, entlassen wurden. (Diese letzte Aussage ist der Grund, warum dem Ingenieur für diesen Text Anonymität gewährt wurde.)

Nachdem Twitter während seiner frühen "Fail Whale"-Tage mit massiven Ausfallzeiten zu kämpfen hatte, wurde das Unternehmen schließlich für den Aufbau eines Teams von sogenannten Site Reliability Engineers (SREs) gelobt. Doch genau diese Gruppe wurde nach der Übernahme durch Musk dezimiert. "Im Moment sind es nur kleine Dinge, aber sie summieren sich, was die Wahrnehmung der Stabilität von Twitter angeht", sagt der Ingenieur.

Er prognostiziert, dass sich die kleinen Hinweise auf Fehler im Laufe der Zeit häufen werden – auch weil die verbliebenen Mitarbeiter, die sich um die Probleme kümmern sollen, schnell ausgebrannt sein werden. "Ein Rund-um-die-Uhr-Betrieb ist der Qualität abträglich – und das sehen wir schon jetzt", sagt er.

Das restliche Ingenieursteam von Twitter war in den letzten Tagen hauptsächlich damit beschäftigt, die Website stabil zu halten, da der neue CEO des Unternehmens beschlossen hat, einen großen Teil des Personals, das die Codebasis des Unternehmens pflegt, zu entlassen. Während Twitter versucht, zu einem gewissen Grad an Normalität zurückzukehren, wird parallel dazu ein Großteil der Zeit damit verbracht, Musks (für die Mitarbeiter oft anstrengenden) Launen in Bezug auf neue Produkte und Funktionen nachzukommen – anstatt das, was bereits vorhanden ist, am Laufen zu halten.

Dies ist laut Krueger besonders problematisch für eine Website wie Twitter, die unvorhergesehene Spitzen im Nutzerverkehr haben kann. Krueger vergleicht Twitter mit Online-Einzelhandels-Websites, auf denen sich Unternehmen mit einer gewissen Vorhersehbarkeit auf große Nachfrageereignisse wie den Black Friday vorbereiten können. "Bei Twitter besteht die Möglichkeit, dass an jedem beliebigen Tag und zu jeder beliebigen Tageszeit ein Black Friday stattfindet", sagt Krueger. "An jedem beliebigen Tag kann ein Nachrichtenereignis eintreten, das erhebliche Auswirkungen auf die Konversation haben kann." Das ist schwieriger, wenn man bis zu 80 Prozent seiner SREs entlässt – eine Zahl, die laut Krueger in der Branche kursiert, die MIT Technology Review aber nicht bestätigen konnte. Der Ingenieur stimmte zu, dass dieser Prozentsatz "plausibel" klänge.

Der aktuelle Twitter-Ingenieur, der mit uns sprach, sieht keinen Ausweg aus dem Problem – außer die Entlassungen rückgängig zu machen (was das Unternehmen Berichten zufolge bereits teilweise versucht hat). "Daran führt kein Weg vorbei. Wir häufen unsere technischen Schulden viel schneller an als früher – fast so schnell wie die finanziellen Schulden."

Der Mitarbeiter entwirft eine dystopische Zukunft, in der sich die Probleme türmen, während der Rückstau an Wartungsaufgaben und Korrekturen immer länger wird. "Dinge werden kaputt gehen. Und zwar immer häufiger. Funktionen werden für längere Zeiträume defekt sein, auf schwerwiegendere Weise defekt", sagt er. "Alles wird sich verschlimmern, bis es schließlich nicht mehr nutzbar ist."

Der Zusammenbruch von Twitter zu einem unbrauchbaren Wrack wird zwar noch einige Zeit auf sich warten lassen, sagt der Ingenieur, aber die verräterischen Anzeichen für die einsetzende "Prozessfäule" sind bereits da. Es beginnt mit den kleinen Dingen: "Bugs in jedem Teil des Clients, den sie benutzen; jeder Dienst im Backend, den sie zu benutzen versuchen", sagt der Ingenieur. "Am Anfang sind es nur kleine Ärgernisse, aber wenn die Backend-Fehlerbehebungen verzögert erfolgen, häufen sich die Probleme, bis die Leute schließlich aufgeben."

Krueger sagt, dass Twitter nicht aus dem Leben scheiden wird, aber dass wir anfangen dürften, eine größere Anzahl von Tweets zu sehen, die nicht geladen werden – oder Accounts, die scheinbar aus einer Laune heraus entstehen und verschwinden. "Ich würde erwarten, dass alles, was Daten ins Backend schreibt, möglicherweise langsamer wird, Zeitüberschreitungen hat und viele weitere subtile Arten von Fehlern auftreten", sagt Krueger. "Aber sie sind oft viel heimtückischer. Außerdem ist es in der Regel sehr viel aufwändiger, sie aufzuspüren und zu beheben. Wenn man nicht genügend Techniker hat, wird das zu einem großen Problem."

Die komischen Retweet-Fehler und die schwankenden Followerzahlen sind Anzeichen dafür, dass dies bereits der Fall ist. Die Twitter-Ingenieure haben "Ausfallsicherungen" entwickelt, auf die die Plattform zurückgreifen kann, so dass die Funktionen nicht vollständig offline gehen, sondern stattdessen abgespeckte Versionen anlaufen – das ist es, was wir sehen, sagt Krueger.

Neben den kleineren Störungen glaubt unser Twitter-Ingenieur auch, dass es bald zu größeren Ausfällen kommen wird, was zum Teil auf Musks Sparmaßnahmen zurückzuführen ist, mit denen die Serverlast der Twitter-Cloud reduziert werden soll, um die Infrastrukturkosten um bis zu 3 Millionen Dollar pro Tag zu senken. Reuters berichtet, dass dieses Projekt, das aus Musks "War Room" stammt, als "Deep Cuts Plan" (Plan der tiefen Einschnitte) bezeichnet wird. Eine Quelle der Nachrichtenagentur Reuters bezeichnete die Pläne gar als "wahnhaft", während Alan Woodward, Professor für Cybersicherheit an der University of Surrey, meint: "Wenn sie das aktuelle System nicht massiv überdimensioniert haben, scheint das Risiko einer geringeren Kapazität und Verfügbarkeit die logische Schlussfolgerung zu sein."

Wenn es dann doch einmal zu einem Ausfall kommt, ist das institutionelle Wissen nicht mehr vorhanden, um auftretende Probleme schnell zu beheben. "Viele der Leute, die ich nach Freitag gesehen habe, sind seit neun, zehn, elf Jahren dabei, was für ein Technologieunternehmen einfach lächerlich ist", sagt der Twitter-Ingenieur. Als diese Personen die Büros von Twitter verließen, verschwanden mit ihnen auch jahrzehntelange Kenntnisse über die Funktionsweise der Systeme. (Diejenigen, die bei Twitter arbeiten, und diejenigen, die das Geschehen von der Seitenlinie aus beobachten, haben schon früher argumentiert, dass Twitters Wissensbasis zu sehr in den Köpfen einer Handvoll Programmierer konzentriert ist, von denen einige gefeuert wurden.)

Zu den Teams, die nach Aussage derjenigen, die bei Twitter geblieben sind, auf ihre nackten Knochen reduziert wurden, gehört leider auch das Team der technischen Redakteure. "Wir hatten wegen [dieses Teams] eine gute Dokumentation", sagt der Ingenieur. Jetzt nicht mehr. Wenn etwas schief geht, ist es schwieriger, herauszufinden, was passiert ist.

Auch extern wird es schwieriger sein, Antworten zu erhalten. Das Kommunikationsteam wurde von 80 bis 100 auf nur noch zwei Personen reduziert, so ein ehemaliges Mitglied des Kommunikationsteams, mit dem MIT Technology Review sprach. "Es gibt für sie zu viel zu tun, und sie sprechen nicht genug Sprachen, um mit der Presse so umzugehen, wie es nötig wäre", sagt der Ingenieur. Als MIT Technology Review Twitter für diese Geschichte kontaktierte, blieb die E-Mail unbeantwortet.

Man fühlt sich an das Sprichtwort erinnert "Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen", schaut man sich die jüngste Kritik von Musk an Mastodon, der Open-Source-Alternative zu Twitter, an. Der Twitter-CEO twitterte einen Beitrag, den er dann schnell wieder löschte, in dem er den Nutzern mitteilte: "Wenn ihr Twitter nicht mehr mögt, gibt es eine großartige Website [sic] namens Masterbatedone [sic]", zusammen mit einem physischen Bild seines Laptop-Bildschirms, der auf Paul Krugmans Mastodon-Profil geöffnet war und ihn zeigte, wie er mehrmals versuchte, auf der Plattform zu posten. Trotz Musks Versuch, die Unzuverlässigkeit von Mastodon hervorzuheben, ist dessen Erfolg bemerkenswert: Fast eine halbe Million Menschen haben sich bei der föderalen Plattform angemeldet, seit Musk Twitter übernommen hat.

Dies geschieht zur gleichen Zeit, in der die ersten Risse im Gebäude von Twitter sichtbar werden. Das ist erst der Anfang, erwartet Krueger. "Ich erwarte, dass innerhalb von sechs Monaten erhebliche Probleme mit der Technologie in der Öffentlichkeit auftreten werden", sagt er. "Und ich denke, das ist eine großzügige Schätzung.

(jle)