"Menschenleben auf dem Spiel": Medikamenten-Lieferengpässe mit Folgen

Der jüngste Medikamentenmangel ist besonders schlimm. Was ist nötig, um das Problem endgültig zu lösen?

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Medikamente, Medizin, Pillen, Gesundheit

(Bild: Komsan Loonprom/Shutterstock.com)

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Von
  • Cassandra Willyard
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Wer in den letzten Monaten die Schlagzeilen im Gesundheitswesen verfolgt hat, wird bemerkt haben, dass viele verschreibungspflichtige Medikamente knapp geworden sind. Laut aktuellem Stand (25. August 2023) der Datenbank des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) liegen 513 Lieferengpässe vor.

Wenngleich Lieferengpässe nicht automatisch Versorgungsengpässe bedeuten müssen, zeigt der Blick in die USA eine prekäre Lage, etwa die Knappheit von ADHS-Medikamenten, wie die New York Times berichtet. Auch bestimmte Steroide waren schwer zu finden. Die meisten Schlagzeilen betrafen in den USA jedoch den Mangel an gängigen Chemotherapeutika. Für Krebspatienten kann das Fehlen an Medikamenten den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten.

Um das Ausmaß dieser Engpässe zu ermitteln, hat die Amerikanische Gesellschaft der Pharmazeuten im Gesundheitswesen (American Society of Health-System Pharmacists, ASHP) kürzlich die Ergebnisse einer Mitgliederbefragung veröffentlicht. Arzneimittelknappheit ist nichts Neues. Dennoch deuten die Ergebnisse von mehr als 1.000 Apothekern darauf hin, dass die aktuelle Krise besonders besorgniserregend ist.

Mehr als 99 Prozent der Befragten, von denen fast alle als Apotheker für Krankenhäuser oder Gesundheitssysteme arbeiten, sind mit Arzneimittelengpässen konfrontiert. In einigen Fällen sind die Engpässe zwar ärgerlich, aber überschaubar. "Wir sprechen von Dingen, die wir leicht durch etwas anderes ersetzen können. Oder wir können eine andere Dosierung oder einen anderen Verabreichungsweg anbieten", sagt Michael Ganio, Senior Director of Pharmacy Practice and Quality bei ASHP.

In der jüngsten Umfrage allerdings gab fast ein Drittel der Befragten an, dass die aktuellen Engpässe ihr Krankenhaus gezwungen haben, Behandlungen oder Verfahren zu rationieren, zu verzögern oder abzusagen. "Das ist signifikant", fügt Ganio hinzu.

Die aktuelle Krise bei Krebsmedikamenten geht auf einen Vorfall im letzten Herbst zurück. Viele der in den USA verkauften Arzneimittel werden in Übersee hergestellt. Im November stellten Inspektoren der US-Zulassungsbehörde Food and Drug Administration (FDA) in einer dieser Anlagen in Indien, die zu Intas Pharmaceuticals gehört, zahlreiche Verstöße in Bezug auf Qualitätskontrolle und Datenintegrität fest. Daraufhin stellte das Werk die Produktion ein. Es war der erste Dominostein in einer Reihe, dessen Umfallen zu einem landesweiten Mangel an Krebsmedikamenten führen sollte.

Vor der Stilllegung produzierte Intas etwa 50 Prozent der US-Versorgung mit Cisplatin, einem gängigen Krebsmedikament zur Behandlung von Hoden-, Eierstock-, Blasen-, Kopf- und Hals-, Lungen- und Gebärmutterhalskrebs. Als das Werk die Produktion einstellte, waren andere Hersteller nicht in der Lage, ihre Produktionen so weit hochzufahren, um Engpässe zu verhindern. Hersteller verfügen nicht über diese Art von Überkapazitäten.

Wenn ein Unternehmen konstant zehn Prozent des Marktanteils produziert, "welchen Anreiz hat es dann, 30 oder 40 Prozent zu produzieren?", sagt Mariana Socal, die an der Johns Hopkins School of Public Health über Gesundheitspolitik forscht.

Als Cisplatin knapp wurde, wechselten die Onkologen mit Carboplatin zu einer anderen gängigen Krebstherapie, die Intas ebenfalls herstellte. Da Intas aber auch kein Carboplatin mehr herstellt und die Nachfrage steigt, ist auch dieses Medikament knapp geworden. "Das war wie ein Domino-Effekt in der Lieferkette", sagt Socal.

Eine Umfrage unter US-Krebszentren im Mai ergab, dass sich satte 93 Prozent einem Mangel an Carboplatin gegenübersahen. Die Auswirkungen auf die Patienten waren tiefgreifend. Einige bekamen eine geringere Dosis. Andere mussten Behandlungen ausfallen lassen oder verschieben. Einige medizinische Organisationen raten Ärzten, Cisplatin und Carboplatin für Patienten zu reservieren, die eine Chance auf Heilung haben.

"Diese Verknappung wird dazu führen, dass Menschen sterben", sagte Ravi Rao, Onkologe an einem Krebszentrum im kalifornischen Fresno der New York Times. "Es gibt einfach keinen Weg daran vorbei. Man kann diese lebensrettenden Medikamente nicht weglassen, ohne dass es schlimm kommt."

Selbst wenn Intas wieder den Betrieb aufnimmt und der Mangel nachlässt, ist das System immer noch anfällig. Socal vergleicht das System der Arzneimittelherstellung mit einer Person, die an einer chronischen Krankheit leidet. Es kommt nur vereinzelt zu Ausbrüchen, "aber wir haben immer noch diesen chronischen Zustand, der unserer gesamten Lieferkette zugrunde liegt".

Generika sind besonders anfällig für Engpässe, weil die Gewinne so gering sind. Cisplatin und Carboplatin kosten beide weniger als 25 Dollar pro Fläschchen. "Der freie Markt treibt diesen Unterbietungswettlauf voran", sagt Socal. Wenn die Preise – und damit auch die Gewinne – so niedrig sind, haben die Hersteller keinen Anreiz, in die Verbesserung der Herstellungsverfahren für diese Medikamente zu investieren, also auch nicht in eine Aufrüstung der Anlagen, eine Erweiterung der Kapazitäten und die Schaffung von Redundanzen.

Das Gleiche gilt in der Regel nicht für Markenmedikamente, die noch unter Patentschutz stehen und daher von einem einzigen Unternehmen hergestellt werden. "Es gibt einen großen wirtschaftlichen Anreiz, diese Produktionslinien am Laufen zu halten", sagt Ganio.

Es gibt Möglichkeiten, die Auswirkungen von Engpässen abzumildern. Eine bessere Planung könnte helfen. Derzeit werden Engpässe bei Arzneimitteln kaum angekündigt, und der Markt ist gezwungen, darauf zu reagieren. KI könnte jedoch ein Frühwarnsystem für Arzneimittelengpässe bieten, das Herstellern und Apotheken hilft, im Voraus zu planen. Genau das soll das Produkt von TraceLink leisten, eines Unternehmens für Lieferkettenmanagement. Das Tool nutzt Echtzeitdaten aus der Lieferkette, um Arzneimittelengpässe und deren Dauer vorherzusagen.

Nach Angaben von TraceLink kann das System Vorhersagen bis zu 90 Tage im Voraus mit einer Genauigkeit von mehr als 80 Prozent treffen. Dinge wie die Schließung von Intas lassen sich jedoch nur schwer vorhersagen. Wenn FDA-Inspektoren Verstöße feststellen, macht die Behörde die Ergebnisse nicht immer rechtzeitig öffentlich zugänglich, sagt Ganio. "Ein FDA-Inspektionsbericht oder ein Warnschreiben verzögert sich oft um mehrere Monate."

Fortschrittliche Fertigungstechnologien könnten ebenfalls dazu beitragen, Engpässe einzudämmen. Dazu gehören etwa der 3D-Druck von Arzneimitteln, die automatische Überwachung zur Erkennung von Geräten, die nicht ordnungsgemäß funktionieren, und die kontinuierliche Herstellung anstelle der Chargenproduktion, die zwar effizienter, aber auch teurer in der Umsetzung ist, so Ganio. Aber diese technischen Lösungen werden das Problem nicht an der Wurzel packen. Generikahersteller brauchen mehr Anreize, um sich auf die Qualität und nicht nur auf die Kosten zu konzentrieren. "Die einzige Information, die derzeit jedem in der Lieferkette zur Verfügung steht, ist der Preis", sagt Socal.

Wenn die Einkäufer von Arzneimitteln einen Maßstab für die Qualität hätten – zum Beispiel bessere Noten für Hersteller, bei denen es noch nie Qualitätsprobleme gab, und schlechtere Noten für Betriebe, bei denen es zu Verstößen bei der Herstellung gekommen ist – könnten sie dies in ihre Kaufentscheidungen einbeziehen. Bei der Umsetzung dieser Maßnahme könnte die FDA helfen, was die Behörde auch bereits seit Jahren zu tun versucht. Oder die Einkäufer selbst könnten verlangen, dass die Unternehmen ihre Bewertungen in ihren Verträgen offenlegen.

Keine der vorgeschlagenen Lösungen wird leicht oder einfach sein, dennoch sie sind dringend notwendig. "Es stehen Menschenleben auf dem Spiel", sagt Socal. "Die öffentliche Gesundheit in Amerika hängt wirklich von einer funktionierenden und zuverlässigen Arzneimittelversorgungskette ab."

(jle)