Warum es so schwierig ist, neue Schmerzmittel-Arten zu entwickeln

Angesichts der wütenden Opioidkrise suchen Unternehmen nach nicht süchtig machenden Schmerzmitteln. Eine neue Studie bietet einen Hoffnungsschimmer.

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(Bild: Bukhta Yurii/Shutterstock.com)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Cassandra Willyard
Inhaltsverzeichnis

Die Statistiken über die Opioidabhängigkeit der Amerikaner sind schwindelerregend. Seit 2010 haben sich die Todesfälle durch Opioid-Überdosierungen fast vervierfacht. Mehr als 80.000 Menschen starben letztes Jahr an einer Opioid-Überdosis. Das ist ein Todesfall alle sechseinhalb Minuten. Opioidkonsumstörung ist eine besonders schwer zu behandelnde Krankheit. Zwar haben wir sichere und wirksame Medikamente, um die Entzugssymptome einzudämmen, den illegalen Opioidkonsum zu reduzieren und den Menschen zu helfen, in Behandlung zu bleiben. Sie verringern auch das Risiko einer tödlichen Überdosis. Eine Mitte August veröffentlichte Studie zeigt jedoch, dass nur einer von fünf Menschen mit Opioidkonsumstörung diese Medikamente erhält.

Es liegt auf der Hand, dass wir mehr tun müssen. Das bedeutet eine Verbesserung der Behandlung, aber auch die Suche nach alternativen Methoden zur Schmerzkontrolle – eine Aufgabe, die sich als äußerst schwierig erwiesen hat. Doch die Ergebnisse einer kürzlich veröffentlichten Studie legen nahe, dass das in Boston ansässige Biotech-Unternehmen Vertex mit seinem Präparat VX-548, einer Pille zur Schmerzlinderung nach Operationen, auf dem richtigen Weg sein könnte. Die höchste Dosis des Wirkstoffs bewirkte eine stärkere Schmerzlinderung als ein Placebo nach einer Ballenzeh-Operation oder einer Bauchstraffung. Anders als Opioide soll es nicht süchtig machen. Das ist eine gute Nachricht in einem Bereich, in dem es bisher viele Rückschläge gab.

Die Behandlung von Schmerzen ist kompliziert, weil Schmerz selbst kompliziert ist. Ärzte kategorisieren, wie lange er anhält – akut oder chronisch – und auch, wie er beginnt. Manche Schmerzen beginnen mit einer Verletzung des Körpers, wie einer Schnittwunde, einer Verbrennung, einem gebrochenen Arm, einem Tumor. Sinnesnerven (Neuronen) in unserem Körper erkennen den Schaden und senden Schmerzsignale an das Gehirn. Manche Schmerzen, wie zum Beispiel das Stechen und Brennen, das bei diabetischen Nervenschäden auftritt, beginnen mit einer Verletzung der Neuronen selbst.

Opioide wie Heroin, Morphin, Fentanyl und all die anderen wirken, indem sie den Schmerz maskieren. Sie binden sich an Rezeptoren im Gehirn und Rückenmark und blockieren die Schmerzsignale. Verschreibungspflichtige Opioide sind in bestimmten Situationen äußerst wirksam bei der Schmerzlinderung. Allerdings blockieren sie nicht nur den Schmerz. Durch die Aktivierung der Opioidrezeptoren wird auch ein Dopaminschub ausgelöst: Wir fühlen uns plötzlich gut, sogar euphorisch. Dieses Gefühl ist allerdings nicht von Dauer. Doch je mehr Opioide man nimmt, desto mehr braucht man, um den gleichen Rausch zu erleben. Deshalb lösen diese Medikamente so leicht eine Abhängigkeit aus.

Natürlich gibt es auch nicht-opioide Schmerzmittel, wie Ibuprofen, Aspirin, Acetaminophen und Naproxen-Natrium. Viele von ihnen sind wahrscheinlich weithin bekannt, denn sie sind rezeptfrei erhältlich. Sie lösen keine Dopaminausschüttung aus und machen nicht süchtig wie Opioide. Trotzdem haben auch diese Medikamente einige gravierende Nachteile: Sie können unter anderem zu Magengeschwüren, Blutungen, Herzproblemen führen.

Die meisten (mit Ausnahme des Wirkstoffs Acetaminophen in Paracetamol) gehören zu einer Klasse namens nichtsteroidale Antirheumatika oder kurz NSAIDS. Wie der Name schon sagt, zielen sie auf die Entzündung im Körper ab und blockieren die Produktion von Chemikalien, die unser Schmerzempfinden auslösen. Sie wirken jedoch nicht bei vielen anderen Schmerzarten.

Die Bemühungen um die Entwicklung neuer Klassen von Schmerzmitteln sind auf viele Hindernisse gestoßen. Gerade letztes Jahr hat Regeneron die Entwicklung eines Präparats zur Behandlung von Arthrose und chronischen Rückenschmerzen eingestellt. Eine experimentelle Schmerztherapie des Biotech-Unternehmens Aptinyx aus dem US-Bundesstaat Illinois scheiterte in einer Studie zur Behandlung von Menschen mit Fibromyalgie. Und das kalifornische Unternehmen Acadia berichtete, dass sein Präparat bei Menschen, die sich einer Ballenzeh-Korrektur unterzogen hatten, nicht besser wirkte als ein Placebo. 2021 stoppten Eli Lilly und Pfizer die Entwicklung des monoklonalen Antikörpers Tanezumab zur Behandlung von Arthrose-Schmerzen. Die Gründe für diese Misserfolge sind nicht ganz klar, was es schwierig macht, bessere Schmerzmittel zu entwickeln.

Der neue Wirkstoff von Vertex gehört nun zu einer Klasse von Arzneimitteln, die auf die Natriumkanäle jener Nerven abzielen, die das Schmerzempfinden vermitteln. Stephen Waxman, ein Neurologe und Schmerzspezialist von der Yale University beschreibt sie als "winzige molekulare Batterien", die die Produktion von Nervenimpulsen steuern.

Natriumkanalblocker gibt es bereits, dazu gehört zum Beispiel das Betäubungsmittel Lidocain. Da sie jedoch alle Natriumkanäle blockieren, sogar die wichtigen Kanäle in Herzzellen und im Gehirn blockieren, werden sie oft nur als Lokalanästhetika verabreicht. VX-548 dagegen zielt auf einen bestimmten Kanal namens Nav1.8 ab, der nur in schmerzempfindlichen Neuronen vorkommt. Das bedeutet, dass es im ganzen Körper gezielt auf diese Neuronen einwirken kann, ohne die Funktion des Herzens oder des Gehirns zu blockieren. Da es keine Opioidrezeptoren aktiviert, löst es auch keine Dopaminausschüttung aus, die bei bisherigen Mitteln den Rausch bewirkt.

Der Wirkstoff wurde in Phase-2-Studien an Patienten mit mäßigen bis starken Schmerzen nach einer Bauchstraffung oder Ballenzeh-Operation getestet. Sie wurden nach dem Zufallsprinzip in verschiedene Gruppen eingeteilt. Einige Teilnehmer erhielten VX-548 in einer von drei Dosierungsstufen, andere bekamen eine Placebopille, während weitere Patienten eine Hydrocodon-Tablette, also ein Opioid, erhielten. Jene Probanden, die die höchste Dosis VX-548 erhalten hatten, erfuhren eine stärkere Schmerzreduzierung als die Teilnehmer der anderen Gruppen.

In einem die Studie begleitenden Leitartikel wird die Wirkung als "gering" beschrieben. Die Ergebnisse sind dennoch spannend, auch weil die Suche nach nicht-opioiden Schmerzmitteln so wenige Erfolge von jeglichem Ausmaß hatte. "Hier haben wir eine klinische Studie am Menschen, die zeigt, dass man auf einen dieser peripheren Natriumkanäle abzielt und die Schmerzen beim Menschen ohne unerwünschte Nebenwirkungen bekämpft", sagte Waxman dem New England Journal of Medicine. "Ich sehe uns im ersten Stadium einer neuen Generation von Schmerzmitteln." Wir können also hoffen.

(jle)