Energiewende: Und jetzt?

Seite 2: Ein Henne-Ei-Problem

Inhaltsverzeichnis

Solange es sich dabei um Strom handelt, der ansonsten ungenutzt verpuffen würde, wäre das nicht weiter tragisch. Doch die Akademien warnen: "Der Begriff ,Überschussstrom' kann zu der Annahme verleiten, es gäbe in Zukunft ,zu viel' Strom." Dabei seien Rohstoffe und Flächen für Wind- und Sonnenkraft begrenzt, und Ökostrom bleibe ein "knappes und kostbares Gut". Der unabhängige Politikberater Chris Malins fordert daher in einem Gutachten für die EU-Kommission: "Bevor die Elektrotreibstoff-Produktion einen großen Maßstab erreicht, muss es einen regulatorischen Rahmen dafür geben, der garantiert, dass der Elektrotreibstoff nur mit überschüssigem Strom aus erneuerbaren Quellen hergestellt wird."

Elektrischen Strom in andere Energieträger umzuwandeln, kostet immer nutzbare Energie. Die Grafik schlüsselt die Wege auf (Anklicken für größere Darstellung).

Um die Sektoren optimal auszubalancieren, ist eine übergreifende digitale Plattform nötig, die den Strom dorthin schickt, wo er den größten Nutzen bringt. Doch entsprechende Standards gebe es noch nicht, sagt Hans-Martin Henning, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme ISE und Mitautor der Akademien-Stellungnahme. "Das ist ein Henne-Ei-Problem, keiner will sich zu früh festlegen, alle machen ihr eigenes Ding." Immerhin hat sich beim Elektrotechnik-Verband VDE im August 2017 eine branchenübergreifende Arbeitsgruppe mit mehr als 50 Teilnehmern zusammengefunden, die Standards für ein "intelligentes Lastmanagement" entwickeln soll.

Als Faustregel könnte dabei eine Liste dienen, die das Fraunhofer ISE bereits 2015 aufgestellt hat. Danach sollte überschüssiger Strom in folgender Reihenfolge verwendet werden: zunächst zum Laden stationärer Batterien, dann zum Laden von Autobatterien und Pumpspeicherwerken, anschließend zur Erzeugung von Wasserstoff und Methan. Es folgen das Heizen thermischer Speicher mit Wärmepumpen, der Stromexport sowie das Beladen von Wärmespeichern mit Heizstab. Erst wenn all das ausgeschöpft ist, sollten Anlagen abgeregelt werden.

Trotzdem dürfte der Strombedarf durch die Sektorkopplung steigen – und damit auch der Bedarf an neuen Stromtrassen. Die Dena rechnet damit, dass die zunehmende Nutzung von E-Mobilität und Wärmepumpen "teilweise eine Verdopplung der heutigen Leitungskapazitäten" erfordern würde. Die Akademien sehen das in ihrer Studie genauso. Zu den genauen Auswirkungen verschiedener Sektorkopplungstechnologien auf den Netzausbau gebe es allerdings "bisher kaum detaillierte Untersuchungen".

Wie stark die Stromnachfrage künftig wachsen wird, ist ebenfalls unklar. "Neue Strom-Wärme-Anwendungen müssen nicht notwendigerweise zu einem viel höheren Stromverbrauch führen, wenn alte, ineffiziente Technologien ausgetauscht und bei den neuen auf Effizienz und Flexibilität geachtet wird", schreibt etwa die Agentur für Erneuerbare Energien (AEE) in einer Metaanalyse, die 32 einschlägige Studien zusammenfasst. Ohne begleitende Effizienzmaßnahmen könne sich der Strombedarf hingegen sogar verfünffachen, meint Volker Quaschning, Professor für Regenerative Energiesysteme an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin.

"Diese Strommenge in absehbarer Zeit klimaneutral zu decken ist unrealistisch. Mit den jetzigen Zubaukorridoren können regenerative Energien bis 2040 nur bis zu 35 Prozent des erforderlichen Bedarfs decken. Das Einhalten der Pariser Klimaschutzvereinbarungen ist damit absolut unmöglich." Doch statt den Ausbau der Erneuerbaren zu forcieren, hat die Große Koalition ihn auf fünf Gigawatt jährlich gedeckelt – weniger, als die Photovoltaik in ihren besten Zeiten allein geschafft hat.

Nicht nur hier steht sich die Energiepolitik selbst im Weg: Für viele sektorübergreifende Anwendungen ist der Strom schlicht zu teuer, selbst wenn die Erzeuger ihn verschenken würden. Denn rund drei Viertel des Strompreises bestehen aus Steuern und Umlagen, weit mehr als bei Heizöl oder Erdgas. "Solange Letztverbraucherabgaben auf Strom erhoben werden, ohne dabei die Auswirkung auf die Markt- und Systemintegration der erneuerbaren Energien zu berücksichtigen, können sich effiziente, systemdienliche und zukunftsfähige Sektorkopplungstechnologien nur schwer im Wettbewerb behaupten", heißt es in einem Positionspapier des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft.

Was also ist zu tun? Die Gesellschaft steht jetzt vor der Aufgabe, verbindlich die Weichen für das gesamte künftige Energiesystem zu stellen. Soll sie auf Wasserstoff-Pipelines setzen? Oder lieber in Fernwärme investieren? Viele Faktoren sind dabei nur schwer absehbar: Wie entwickeln sich die Batteriekosten? Wie schnell gelingt der Netzausbau? Was machen die europäischen Nachbarn?

Das ganze Unterfangen gleicht dem Versuch, ein unbekanntes Labyrinth zu durchqueren, ohne ein einziges Mal in eine Sackgasse zu laufen – denn aus dieser käme man nur schwer wieder heraus. Falsche Investitionsentscheidungen von heute können ineffiziente Energiepfade schlimmstenfalls über Jahrzehnte festschreiben, ohne dass klar ist, wie viel "überschüssiger" Ökostrom dann wirklich zur Verfügung stehen wird.

Dennoch kann die Politik mit einer entscheidenden Maßnahme die Richtung vorgeben. "Damit die Sektorkopplung ihr volles Potenzial entfalten kann, müssen die Märkte für Strom, Wärme und Verkehr gleiche Bedingungen für alle Energieträger bieten", fordern die Akademien. "Ein einheitlicher, wirksamer CO2-Preis für alle Emissionen kann hierfür die zentrale Rolle spielen." Dazu schlagen sie vor, den europäischen Emissionshandel, der bisher nur Stromerzeugung und Industrie einbezieht, auf alle Sektoren auszuweiten und ihn mit einem Mindestpreis zu versehen. Gelinge dies nicht, könnte eine europaweite oder nationale CO2-Steuer eingeführt werden – und bisherige Abgaben ersetzen.

Auch die Monopolkommission der Bundesregierung befürwortet eine einheitliche Energiesteuer, die sich am CO2-Ausstoß orientiert. "So würde der Einsatz von Strom in den Sektoren Verkehr und Wärmeerzeugung im Vergleich zu den fossilen Energieträgern relativ günstiger", schreibt sie in ihrem Sondergutachten Energie 2017. "Die Anreize zur Sektorkopplung würden steigen."

Eine derart flexible und technologieneutrale Regelung hätte zudem den Vorteil, dass nicht bei jeder neuen Situation nachjustiert werden muss. Sie könnte damit zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Erstens für Planungssicherheit sorgen. "Das ist für langfristige Investitionen in klimafreundliche Technologien entscheidend", mahnt Hans-Martin Henning. Und zweitens die anstehende dynamische Entwicklung unterstützen. "Der Bedarf an Power-to-X wird nicht linear wachsen, sondern sprunghaft zunehmen", erwartet der Fraunhofer-Forscher.

(grh)