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Energiewende: Und jetzt?

Gregor Honsel

Die Energiewende geht in eine entscheidende Phase: Verkehr, Wärmemarkt und Rohstoffindustrie müssen auf Strom aus Wind und Sonne umgestellt werden. Sonst sinkt weder der Kohlendioxidausstoß noch lässt sich die Stromversorgung stabilisieren.

Mit 3700 Gigawattstunden ließen sich knapp zwei Millionen Elektroautos ein Jahr lang betreiben. Oder eine Million Vier-Personen-Haushalte. Doch Deutschland hat diese Menge Strom 2016 gewissermaßen durch den Schornstein geblasen. Um das Stromnetz nicht zu überlasten, wurden vor allem Windräder regelmäßig abgeschaltet.

Der viele Ökostrom verursacht bisweilen absurde Folgen im Strommarkt: Am Neujahrsmorgen um sechs Uhr lieferten Wind, Wasserkraft und Biomasse erstmals in der Geschichte hundert Prozent des gesamten deutschen Strombedarfs. Weil aber die schlecht regulierbaren Kohlekraftwerke weiterliefen, sanken die Kosten für eine Megawattstunde an der Strombörse zeitweise auf minus 76 Euro. Wer Strom einspeisen wollte, musste also draufzahlen. Gleichzeitig meldete der Netzbetreiber Tennet für das Jahr 2017 Rekordkosten von rund einer Milliarde Euro für Eingriffe, um das Netz zu stabilisieren.

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Außerhalb des Stromnetzes macht sich erneuerbare Energie hingegen noch rar: Bei der Wärmeversorgung für Haushalte und Industrie beträgt ihr Anteil lediglich gut 13 Prozent, beim Verkehr 5. Dabei verursachen diese Sektoren gemeinsam rund zwei Drittel der gesamten CO2-Emissionen. Um seine selbstgesteckten Klimaziele zu erreichen, muss Deutschland auch diese Sektoren stärker angehen. Was also liegt näher, als einen Überschuss an Energie dorthin zu verschieben, wo Bedarf herrscht?

Unter dem Stichwort Sektorkopplung häufen sich Kongresse und Studien, die diesen energetischen Verschiebebahnhof sondieren. Im November haben etwa die Wissenschaftsakademien Leopoldina, Acatech und Akademienunion eine 200-seitige Untersuchung zur "Entwicklung eines integrierten Energiesystems" vorgelegt, an der rund hundert Fachleute mitgewirkt haben.

Ungenutzte Möglichkeiten

Die Grafik zeigt, aus welchen Quellen die jeweiligen Sektoren im Jahr 2016 ihre Energie bezogen. Bislang dient Strom vor allem klassischen Zwecken wie dem Betrieb von Lampen oder Elektrogeräten. Zum Heizen und im Verkehr kommt er dagegen noch kaum zum Einsatz.

Die Autoren sehen nun die zweite Phase der Energiewende gekommen: In der ersten Phase ging es um Entwicklung und Ausbau der nötigen Basistechnologien. Nun sei die Zeit der "Systemintegration" gekommen. "Das heißt konkret, Strom überall dort direkt zu nutzen, wo es am effizientesten ist – etwa in Elektroautos und Wärmepumpen –, Batterien als Kurzzeitspeicher einzusetzen und flexible, digital gesteuerte Stromnutzungsmodelle zu entwickeln", heißt es in der Kurzfassung der Studie.

Technisch ist die Kopplung von Elektrizität, Wärme und Verkehr kein großes Problem, denn kein Energieträger ist so vielseitig einsetzbar wie Strom. Eine der einfachsten Maßnahmen ist es, eine Art Tauchsieder in einen Wasserkessel einzubauen – im kleinen Maßstab etwa zur Unterstützung der Hausheizung, im großen bei einem Blockheizkraftwerk. Noch effizienter geht es mit Wärmepumpen. Auf diese Weise verringert sich der Bedarf an Gas oder Heizöl, um Wärme zu erzeugen. Im Verkehr lassen sich mit Elektroautos viele Tausend Tonnen fossiler Brennstoffe sparen. Zudem eröffnet Strom eine riesige Auswahl chemischer Pfade: Per Elektrolyse gewonnener Wasserstoff kann nicht nur zu Kraftstoffen umgewandelt werden, sondern auch zu Basischemikalien.

Doch wenn das alles so einfach ist – warum geht es dann so schleppend voran? Tatsächlich wird die Aufgabe umso komplexer, je tiefer man in die Details eindringt. Denn es geht ja nicht darum, einfach nur überschüssigen Strom halbwegs sinnvoll loszuwerden. Das ist vergleichsweise trivial – zur Not könnte man damit auch die Bürgersteige heizen. Doch eine Anwendung für Strom zu finden, die sich gut mit dem Stromnetz verträgt, möglichst viel fossilen Brennstoff verdrängt und gleichzeitig wirtschaftlich ist, gestaltet sich schon schwieriger. Heizt ein Haushalt beispielsweise nur noch mit Strom – etwa per Nachtspeicherofen oder Wärmepumpe –, wäre zwar der Verdrängungseffekt maximal.

Wenn es aber kalt wird, muss schnell viel Strom herangeschafft werden, egal woher. Schwächeln die Erneuerbaren gerade, müssen zur Not auch Kohlekraftwerke herhalten. Eine schlecht durchdachte Sektorkopplung belastet Netz und Klima also möglicherweise zusätzlich.

Ihre ganze Stärke kann die Sektorkopplung hingegen ausspielen, wenn sich überschüssiger Strom nicht nur sinnvoll nutzen, sondern bei Bedarf auch wieder zurückspeisen lässt. Die gern unter dem Kürzel "Power-to-X" (PtX) zusammengefasste elektrische Erzeugung von Wasserstoff, Methan oder Flüssigtreibstoff ist ein entscheidendes Scharnier dafür. "Der weitere Ausbau fluktuierender Erneuerbarer wird zunehmend zu großen Strommengen führen, die nicht mehr direkt oder durch Kurzzeitspeicher und Lastmanagement abgenommen werden können", argumentieren die Akademien. Wasserstoff werde deshalb die dritte Phase der Energiewende ab Ende der 2020er-Jahre "maßgeblich prägen".

Verpuffte Energie

Verpuffte Energie - Immer häufiger müssen Ökokraftwerke in Deutschland ihre Produktion drosseln, um das Stromnetz vor Überlastung zu schützen. 2015 erzeugten die Anlagen so insgesamt gut 4700 GWh weniger Strom, als möglich gewesen wäre - der vorläufige Negativrekord.

Ob auch synthetische Kohlenwasserstoffe ("Power-to-Gas" beziehungsweise "Power-to-Liquid") etwas im Energiesystem der Zukunft zu suchen haben, ist allerdings umstritten. "In allen untersuchten Szenarios ist das Erreichen der Klimaschutzziele nur mit dem Einsatz synthetischer Brenn- und Kraftstoffe möglich", schreibt die halbstaatliche Deutsche Energie-Agentur Dena. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen hält dagegen: Ihr Nutzen als Speicher werde von der "energetischen Ineffizienz weit überkompensiert". Sinnvolle Anwendungen für synthetische Kraftstoffe sieht der Rat lediglich bei Langstrecken-Lkw, Containerschiffen oder Verkehrsflugzeugen, die auf absehbare Zeit nicht batterieelektrisch angetrieben werden können.

Bei der Diskussion wird gern übersehen, dass nicht jeder Energiespeicher gleichzeitig auch ein Stromspeicher ist. Elektrisch erzeugte Kohlenwasserstoffe können zwar relativ einfach große Mengen Energie speichern, aber schon bei ihrer Herstellung geht viel davon verloren. Werden sie wieder verstromt, sinkt ihr Wirkungsgrad weiter.

Solange es sich dabei um Strom handelt, der ansonsten ungenutzt verpuffen würde, wäre das nicht weiter tragisch. Doch die Akademien warnen: "Der Begriff ,Überschussstrom' kann zu der Annahme verleiten, es gäbe in Zukunft ,zu viel' Strom." Dabei seien Rohstoffe und Flächen für Wind- und Sonnenkraft begrenzt, und Ökostrom bleibe ein "knappes und kostbares Gut". Der unabhängige Politikberater Chris Malins fordert daher in einem Gutachten für die EU-Kommission: "Bevor die Elektrotreibstoff-Produktion einen großen Maßstab erreicht, muss es einen regulatorischen Rahmen dafür geben, der garantiert, dass der Elektrotreibstoff nur mit überschüssigem Strom aus erneuerbaren Quellen hergestellt wird."

Umwandlung von Strom

Elektrischen Strom in andere Energieträger umzuwandeln, kostet immer nutzbare Energie. Die Grafik schlüsselt die Wege auf (Anklicken für größere Darstellung).

Um die Sektoren optimal auszubalancieren, ist eine übergreifende digitale Plattform nötig, die den Strom dorthin schickt, wo er den größten Nutzen bringt. Doch entsprechende Standards gebe es noch nicht, sagt Hans-Martin Henning, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme ISE und Mitautor der Akademien-Stellungnahme. "Das ist ein Henne-Ei-Problem, keiner will sich zu früh festlegen, alle machen ihr eigenes Ding." Immerhin hat sich beim Elektrotechnik-Verband VDE im August 2017 eine branchenübergreifende Arbeitsgruppe mit mehr als 50 Teilnehmern zusammengefunden, die Standards für ein "intelligentes Lastmanagement" entwickeln soll.

Als Faustregel könnte dabei eine Liste dienen, die das Fraunhofer ISE bereits 2015 aufgestellt hat. Danach sollte überschüssiger Strom in folgender Reihenfolge verwendet werden: zunächst zum Laden stationärer Batterien, dann zum Laden von Autobatterien und Pumpspeicherwerken, anschließend zur Erzeugung von Wasserstoff und Methan. Es folgen das Heizen thermischer Speicher mit Wärmepumpen, der Stromexport sowie das Beladen von Wärmespeichern mit Heizstab. Erst wenn all das ausgeschöpft ist, sollten Anlagen abgeregelt werden.

Trotzdem dürfte der Strombedarf durch die Sektorkopplung steigen – und damit auch der Bedarf an neuen Stromtrassen. Die Dena rechnet damit, dass die zunehmende Nutzung von E-Mobilität und Wärmepumpen "teilweise eine Verdopplung der heutigen Leitungskapazitäten" erfordern würde. Die Akademien sehen das in ihrer Studie genauso. Zu den genauen Auswirkungen verschiedener Sektorkopplungstechnologien auf den Netzausbau gebe es allerdings "bisher kaum detaillierte Untersuchungen".

Wie stark die Stromnachfrage künftig wachsen wird, ist ebenfalls unklar. "Neue Strom-Wärme-Anwendungen müssen nicht notwendigerweise zu einem viel höheren Stromverbrauch führen, wenn alte, ineffiziente Technologien ausgetauscht und bei den neuen auf Effizienz und Flexibilität geachtet wird", schreibt etwa die Agentur für Erneuerbare Energien (AEE) in einer Metaanalyse, die 32 einschlägige Studien zusammenfasst. Ohne begleitende Effizienzmaßnahmen könne sich der Strombedarf hingegen sogar verfünffachen, meint Volker Quaschning, Professor für Regenerative Energiesysteme an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin.

"Diese Strommenge in absehbarer Zeit klimaneutral zu decken ist unrealistisch. Mit den jetzigen Zubaukorridoren können regenerative Energien bis 2040 nur bis zu 35 Prozent des erforderlichen Bedarfs decken. Das Einhalten der Pariser Klimaschutzvereinbarungen ist damit absolut unmöglich." Doch statt den Ausbau der Erneuerbaren zu forcieren, hat die Große Koalition ihn auf fünf Gigawatt jährlich gedeckelt – weniger, als die Photovoltaik in ihren besten Zeiten allein geschafft hat.

Nicht nur hier steht sich die Energiepolitik selbst im Weg: Für viele sektorübergreifende Anwendungen ist der Strom schlicht zu teuer, selbst wenn die Erzeuger ihn verschenken würden. Denn rund drei Viertel des Strompreises bestehen aus Steuern und Umlagen, weit mehr als bei Heizöl oder Erdgas. "Solange Letztverbraucherabgaben auf Strom erhoben werden, ohne dabei die Auswirkung auf die Markt- und Systemintegration der erneuerbaren Energien zu berücksichtigen, können sich effiziente, systemdienliche und zukunftsfähige Sektorkopplungstechnologien nur schwer im Wettbewerb behaupten", heißt es in einem Positionspapier des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft.

Was also ist zu tun? Die Gesellschaft steht jetzt vor der Aufgabe, verbindlich die Weichen für das gesamte künftige Energiesystem zu stellen. Soll sie auf Wasserstoff-Pipelines setzen? Oder lieber in Fernwärme investieren? Viele Faktoren sind dabei nur schwer absehbar: Wie entwickeln sich die Batteriekosten? Wie schnell gelingt der Netzausbau? Was machen die europäischen Nachbarn?

Das ganze Unterfangen gleicht dem Versuch, ein unbekanntes Labyrinth zu durchqueren, ohne ein einziges Mal in eine Sackgasse zu laufen – denn aus dieser käme man nur schwer wieder heraus. Falsche Investitionsentscheidungen von heute können ineffiziente Energiepfade schlimmstenfalls über Jahrzehnte festschreiben, ohne dass klar ist, wie viel "überschüssiger" Ökostrom dann wirklich zur Verfügung stehen wird.

Dennoch kann die Politik mit einer entscheidenden Maßnahme die Richtung vorgeben. "Damit die Sektorkopplung ihr volles Potenzial entfalten kann, müssen die Märkte für Strom, Wärme und Verkehr gleiche Bedingungen für alle Energieträger bieten", fordern die Akademien. "Ein einheitlicher, wirksamer CO2-Preis für alle Emissionen kann hierfür die zentrale Rolle spielen." Dazu schlagen sie vor, den europäischen Emissionshandel, der bisher nur Stromerzeugung und Industrie einbezieht, auf alle Sektoren auszuweiten und ihn mit einem Mindestpreis zu versehen. Gelinge dies nicht, könnte eine europaweite oder nationale CO2-Steuer eingeführt werden – und bisherige Abgaben ersetzen.

Auch die Monopolkommission der Bundesregierung befürwortet eine einheitliche Energiesteuer, die sich am CO2-Ausstoß orientiert. "So würde der Einsatz von Strom in den Sektoren Verkehr und Wärmeerzeugung im Vergleich zu den fossilen Energieträgern relativ günstiger", schreibt sie in ihrem Sondergutachten Energie 2017. "Die Anreize zur Sektorkopplung würden steigen."

Eine derart flexible und technologieneutrale Regelung hätte zudem den Vorteil, dass nicht bei jeder neuen Situation nachjustiert werden muss. Sie könnte damit zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Erstens für Planungssicherheit sorgen. "Das ist für langfristige Investitionen in klimafreundliche Technologien entscheidend", mahnt Hans-Martin Henning. Und zweitens die anstehende dynamische Entwicklung unterstützen. "Der Bedarf an Power-to-X wird nicht linear wachsen, sondern sprunghaft zunehmen", erwartet der Fraunhofer-Forscher.

(grh [5])


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