Verfall der USA: Fortschritt Fehlanzeige

Überall in den USA bleiben Kleinstädte wirtschaftlich auf der Strecke. Soll die Demokratie noch eine Chance haben, braucht es einen Weg aus der Misere.

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(Bild: Nick Hagen)

Lesezeit: 20 Min.
Von
  • Brian Alexander
Inhaltsverzeichnis

Valerie Moreno lachte laut auf, als ich sie fragte, ob ihre Familie regelmäßig zum Gesundheitscheck ginge. „Mein Gott, nein!“, sagte sie. „Wir müssten schon im Sterben liegen, bevor wir einen Arzt aufsuchen.“ Der Grund dafür lag auf der Hand. Valerie, mit einem Sweatshirt und Jeans bekleidet, ihr dunkles Haar mit ein paar grauen Strähnen durchzogen, zog ihr Scheckbuch aus einer kleinen Tasche. „Ich habe 65 Dollar auf dem Girokonto“, sagte sie.

Es war das Jahr 2018, der Winter hatte gerade begonnen. Wir saßen im Keller der First Lutheran Church der Kleinstadt Bryan im Nordwesten Ohios. Früher drängten sich die Besucher auf den Kirchenbänken. Aber immer mehr Leute blieben weg – entweder gingen sie gar nicht mehr zur Kirche oder waren zu einer der neuen evangelikalen Freikirchen übergewechselt. Der Raum, wegen der Kälte dicht verschlossen, roch muffig.

Später am Abend würde Valerie ihren Job in der dritten Schicht bei Sauder, einem Hersteller von Einrichtungsgegenständen, antreten. Sie verdiente dort 14 Dollar pro Stunde. Bei Sonnenaufgang am nächsten Morgen würde sie zu ihrem zweiten Job als Schulbusbegleiterin in Bryan wechseln. Dann würde sie nach Hause fahren, um ein paar Stunden zu schlafen, bis sie wieder aufstand, um ihren dritten Job anzutreten – als Haushaltshilfe des pensionierten Pastors der First Lutheran Church. Ihr blieben gerade mal vier Stunden Schlaf. Ihr Mann arbeitete Vollzeit in einer Metallfabrik. Insgesamt, so sagte sie, verdienten sie und ihr Mann nach Abzug der Krankenversicherungsprämien, aber vor Steuern, etwa 45 000 Dollar im Jahr. Sie hatten eine Tochter im Grundschulalter. Sie lebten – aber mehr schlecht als recht.