Verschwindet die Vernunft?

Seite 2: Gegenargumente werden in Zweifel gezogen

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Gegenteilige Belege werden in Zweifel gezogen und verächtlich gemacht. Dabei nehmen sie für sich selbst jeweils in Anspruch, mit den Fakten konform zu gehen. "Die Menschen auf beiden Seiten des Themas denken, dass die Wissenschaft auf ihrer Seite ist", sagt Kahan. "Es ist wie bei Nationen, die Krieg gegeneinander führen und jeweils denken, dass Gott mit ihnen ist und die andere Seite gottlos ist." Die USA waren schon vor Trumps Amtsantritt politisch so stark entzweit wie seit 1897 nicht mehr, wenn man Studien des PEW Research Centers und Analysen des Abstimmungsverhaltens im Kongress folgt. Und dass in der europäischen Öffentlich-keit derzeit besonders harmonische Zeiten herrschen, lässt sich auch nicht sagen.

Ihre massive Außenwirkung entfaltete diese Dynamik aber erst mit dem Aufkommen neuer Medien. Auch früher gelangten Unwahrheiten und Falschaussagen an die Öffentlichkeit. Aber sie hatten es schwerer. Mittlerweile erlaubt es die Digitalisierung jedem Nutzer, Inhalte mit wenigen Klicks ungeprüft auf Facebook oder YouTube hochzuladen. Dank Suchmaschinen findet jeder noch so abwegige Gedanke eine Bestätigung irgendwo im Netz. Die Algorithmen sozialer Netzwerke führen Gleichgesinnte zusammen und trennen Andersdenkende. Selbst wenn die Zahl der Klimawandelleugner, Impfgegner und Verschwörungstheoretiker gering ist – ihre Wirkung ist es nicht. Laut Reuters Digital News Report 2018 gaben 45 Prozent der US-Amerikaner an, soziale Netzwerke als Nachrichtenquelle zu nutzen.

In Deutschland sind es 31 Prozent. Studien haben ergeben, dass sich Fake News auf Twitter und Facebook schneller verbreiten als korrekte Meldungen – und dass sie weit mehr Reichweite erzielen als ihre Richtigstellungen. "Der Aufstieg Trumps ist ein Symptom der Schwäche der Massenmedien und insbesondere ihrer Fähigkeiten, die Grenzen des Sagbaren festzulegen", schrieb schon 2016 die Soziologin Zeynep Tufekci in der "New York Times". "Über Jahrzehnte hinweg waren Journalisten großer Medienunternehmen als Torwächter tätig, die darüber urteilten, welche Ideen öffentlich diskutiert werden konnten und was als zu radikal galt."

Welche kognitiven Verzerrungen dazu führen, dass wir gefühlte Wahrheiten pflegen, ist in der Psychologie gut untersucht. Aber wie kann man überzeugte Anhänger eines nicht wissenschaftlichen Weltbildes zurück auf den Boden der Tatsachen holen? Sie lediglich mit korrigierenden Fakten zu konfrontieren, kann sogar schädlich sein, wie beispielsweise Forscher des Dartmouth College 2014 in einer Studie mit Impfgegnern gezeigt haben. Die Probanden zogen die Fakten in Zweifel, vermuteten dahinter gefälschte Studien von Big Pharma und hielten an ihrer Ablehnung noch stärker fest.

Ob es auch ohne Fakten geht, untersuchten 2015 Forscher um Zachary Horne von der University of Illinois. Sie teilten 315 Impfskeptiker in zwei Gruppen auf. Eine Teilgruppe erhielt nüchterne Informationen zu häufigen Irrtümern über Impfungen und Impfschäden. Einer anderen Teilgruppe wurden teils emotionale Darstellungen der möglichen Folgeschäden von Röteln, Mumps und Masern gezeigt, darunter Bilder kranker Kinder und der Bericht einer Mutter, die den Krankheitsverlauf bei ihrem Kind schildert.

Die mit rationalen Argumenten aufgeklärten Probanden behielten ihre Impfskepsis stärker bei als die Probanden der zweiten Gruppe. Impfskepsis, oft geboren aus Ängsten, lässt sich also mit Gegenangst bekämpfen: Indem man die Risiken unterlassener Impfungen emotional zugäng-lich aufzeigt. Dem wissenschaftlichen Ideal – Ratio statt Gefühl – entspricht diese Methode nicht. Die Aufklärung erreicht eine Grenze. Der Punkt ist nur: Man kann sie überschreiten. Auch nach 300 Jahren ist die Aufklärung eben noch lange nicht abgeschlossen.

(anwe)