Vor 40 Jahren: Atari vergräbt die ganze Videospiele-Industrie in einer Müllhalde

Nach einem beispiellosen Höhenflug brechen 1983 die Umsätze von Videospielen ein. Atari entsorgt hunderttausende Spiele. Die Ära der Konsolen scheint vorüber.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 145 Kommentare lesen
Dourados,,Ms,,Brazil,December,10,,2020.,Several,Atari,2600,Cartridges

(Bild: Shutterstock.com/Anderson Reis)

Lesezeit: 10 Min.
Von
  • René Meyer
Inhaltsverzeichnis

Vor 40 Jahren, im Herbst 1983, lässt Atari "Millionen" von Spielen für die 2600-Konsole in einer Mülldeponie in der Wüste von New Mexiko verscharren. Was bereits damals sagenumwoben ist, wächst zur größten Legende in der Geschichte der Spiele. Schon von Anfang an rätselt man über die Anzahl der Kipplaster – sie variiert je nach Bericht zwischen 10 und 20 –, die nächtliche Heimlichtuerei, das Zermalmen der Spiele mit einer Planierraupe und über den langen Anfahrtsweg – vom Atari-Lagerhaus in El Paso in Texas nach Alamogordo in New Mexico sind es 90 Meilen (ca. 145 km). Und vor allem: warum nur? Die Gründe für die massenhafte Entsorgung in einer eigens dafür angelegten Grube liegen im Dunkeln. Atari erklärt vage, man wollte Platz schaffen für die Nachfolge-Konsole 5200.

Für die einheimischen Jugendlichen ist es hingegen ein Abenteuer. Sie schnappen sich erhalten gebliebene Module und versuchen gar, sie an hiesige Geschäfte zu verkaufen. Die Stadtverwaltung bekommt die Aktion vor ihren Toren erst mit, als sie schon läuft. Man ist nicht begeistert, dass hier Industrie-Müll aus dem Nachbarstaat abgeladen wird. Rechtlich gibt es keine Handhabe; auch wenn die Umstände der Entsorgung ungewöhnlich sind.

Nach wenigen Tagen ist der Spuk zu Ende: Atari bricht die Entsorgung vorzeitig ab; wegen der ungewollten Publicity, der Presse, den Schaulustigen, den Plünderern. Und lässt Massen an Zement über alles gießen. Obwohl lokale Zeitungen und später die New York Times berichten, gilt es für lange Zeit als ungeklärtes Rätsel, ob das Atari-Grab wirklich existiert.

Erst drei Jahrzehnte später kommt ein Stück Aufklärung. Im Rahmen der Dokumentation "Atari – Game Over" erfolgt eine Ausgrabung mit dem Segen der Stadt. Produziert von einer kanadischen Agentur, finanziert von Microsoft und mit Regisseur Zak Penn, der sonst an Drehbüchern für Filme wie "Ready Player One" und "Free Guy" schreibt. Man findet Spiele, natürlich, kann aber nur 1.300 Exemplare bergen. Eine komplette Ausgrabung wäre zu aufwendig: Die Zementdecke befindet sich in zehn Metern Tiefe.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier ein externes YouTube-Video (Google Ireland Limited) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Google Ireland Limited) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Sowohl 1983 als auch 2014 ist James Heller vor Ort, der damals verantwortliche Manager von Atari. Er nennt konkrete Zahlen: 12 Lkw-Ladungen mit ungefähr 750.000 Spielen, nahezu alles Neuware. Auch die Gründe werden klarer: Atari steckt in der Krise; und eine der Maßnahmen zum Einsparen ist das Aufgeben des Lagers in El Paso.

Wie kann es dazu kommen? Ein Jahr zuvor sitzt Atari noch fest im Sattel. Erst 10 Jahre alt, hat das Unternehmen bereits 10.000 Mitarbeiter. Von 1979 bis 1982 verdoppeln sich die Umsätze jährlich, auf zwei Milliarden Dollar. Das Atari 2600 hat einen Marktanteil von 80 Prozent; die Mitbewerber Mattel mit dem Intellivision und Coleco mit dem ColecoVision sind weit abgeschlagen. Nicht eingerechnet sind die Münzspiel-Automaten, die zunächst noch erheblich mehr Geld einbringen als die Heimkonsolen. Zwei Drittel der Gewinne von Warner stammen von der Spiele-Tochter Atari.

Doch gegen Ende 1982 wendet sich das Blatt. Wie so oft kommen viele Gründe zusammen. Atari rechnet mit weiterem Wachstum, aber der Markt ist gesättigt. Es gibt zu viele Konsolen; und das goldene Zeitalter der Heimcomputer beginnt. Atari verliert eine wegweisende Klage gegen Activision, nach der es nicht nur Atari, sondern auch jedem anderen Studio möglich ist, Spiele für die Konsole herauszubringen. Dadurch entsteht eine wahre Flut an (oft schlechten) Veröffentlichungen. Wohl veröffentlicht Atari Ende 1982 eine Nachfolger-Konsole, aber das Atari 5200 gerät zum Flop; unter anderem, weil es inkompatibel zum 2600 ist.

Während Atari 1982 noch 323 Millionen Dollar Gewinn macht, sind es im Folgejahr 538 Millionen Verlust. Der Videospiele-Markt in den USA fällt von mehr als 3 Milliarden Dollar Umsatz auf 100 Millionen Dollar. Ein Großteil der Mitarbeiter von Atari muss gehen, Niederlassungen werden geschlossen. Auch der Mutterkonzern Warner gerät in Bedrängnis; er trennt sich von Atari Mitte 1984.

Für den Atari-Gründer Nolan Bushnell, der sein Unternehmen 1976 an Warner verkauft und zwei Jahre später verbittert verlässt, ist es Selbstmord: "Es war eine Folge von vielen Fehltritten in Technik, Entwicklung und Marketing."

Mattel steigt ganz aus dem Videospiele-Geschäft aus, genau wie der Brettspiele-Hersteller Parker Brothers und viele andere. Coleco verbrennt sich mit dem glücklosen Heimcomputer Adam die Finger, zieht sich aus der Branche zurück und muss 1988 Insolvenz anmelden.

Der Autor der Konsolen-Bibel "Phoenix", Leonard Herman, denkt, dass zu viele Spiele auf dem Markt sind, vor allem für das Atari 2600: "Es schien, als würde jedes Unternehmen Spiele für das Gerät herausbringen, die um die Regale in den Geschäften kämpften. Der Markt war übersättigt. Die kleineren Unternehmen gingen unter; und ihre Spiele wurden verramscht. Die Unternehmen, die im Geschäft blieben, mussten mit diesen Spielen konkurrieren, die für 5 Dollar das Stück verkauft wurden. Das führte zu weiteren Insolvenzen. Die größeren Unternehmen wie Activision, Atari und Parker Brothers entwickelten und veröffentlichten weiterhin neue Produkte, die sie zu normalen Preisen verkauften: 30 bis 60 US-Dollar. Ihre Verkäufe gingen jedoch zurück, da die Leute, insbesondere Gelegenheitsspieler, stattdessen zu den günstigeren Spielen griffen."

Vor allem zwei Spiele stehen für das Scheitern von Atari: "E.T." und "Pac-Man". Beides sind enttäuschende Umsetzungen. Das eine vom Spielfilm, das andere vom Arcade-Automaten.

"Pac-Man" ist eine Lizenz des Spielhallen-Hits von Namco, sieht aber im Vergleich kümmerlich aus: 16 KB ROM, 2 KB RAM und 2 KB Video-RAM des Arcade-Boards müssen in ein 4 KB großes Steckmodul für die Konsole gepresst werden; und das bei einem deutlich langsameren Prozessor. Alles ist heruntergerechnet. Das Labyrinth, die Grafik, die Bewegungen.

Obwohl sich "Pac-Man" mehr als acht Millionen Mal verkauft und damit zum erfolgreichsten Spiel für die Konsole wird, erwächst für Atari ein doppeltes Problem: Erstens erhofft sich das Unternehmen weit mehr Verkäufe und produziert mehr Module, als überhaupt Konsolen auf dem Markt sind – die Rede ist von 12 Millionen. Zweitens zeigt das Spiel im Vergleich zum Original (und etwa zum C64), dass die Zeit des fünf Jahre alten Atari 2600 abgelaufen ist. Atari steht nicht mehr wie früher für Qualität.

Wenn man an die Videospiele-Krise denkt, denkt man natürlich in erster Linie an "E.T.", das "schlechteste Spiel aller Zeiten", wie es zuweilen spöttisch genannt wird. Umsetzungen erfolgreicher Filme sind 1982 der neueste Schrei. Unter anderem erscheinen "Alien", "Tron" und "Star Wars – Das Imperium schlägt zurück" für das Atari 2600. Wermutstropfen: Alle drei werden nicht von Atari selbst produziert, sondern von 20th Century Fox, Mattel und Parker Brothers. Eine Lizenz ergattern kann Atari für die beiden Sahnestücke "Indiana Jones" und eben "E.T." von Spiele-Narr Steven Spielberg. Doch beide werden kein sonderlicher Erfolg.

Dabei zahlt die Atari-Mutter Warner für die Rechte an "E.T." eine absurd hohe Lizenzsumme: Häufig werden 20 bis 25 Millionen Dollar genannt; eine Spielberg-Biographie spricht von 23 Millionen allein als Vorschuss auf die Tantiemen. Warner-Boss Steve Ross verfolgt mit dem Angebot einen weiteren Zweck. Er möchte Spielberg auch als Regisseur für sein Filmstudio gewinnen – was wenige Jahre später mit "Die Farbe Lila" und "Im Reich der Sonne" gelingt.

Doch die Verhandlungen ziehen sich so lange hin, dass dem Entwickler Howard Scott Warshaw nur fünf Wochen Zeit bleiben, um ein Spiel zu entwickeln, das rechtzeitig vor Weihnachten erscheint. Spielberg schwebt etwas in der Art wie "Pac-Man" vor; aber Warshaw möchte etwas Originelles, Innovatives. Was am Ende zu kompliziert wird. Damit zeigen sich viele Spieler überfordert; und sie geben es enttäuscht zurück. Von den 5 Millionen produzierten Modulen verkaufen sich nur 1,5 Millionen.

Den Spiele-Journalisten Harald Fränkel ärgert der schlechte Ruf des Spiels: "In Wahrheit gehört es wegen seiner für damalige Verhältnisse hohen Komplexität sogar zu den besseren Titeln für das Atari 2600. Es war seiner Zeit voraus, weil es eine offene Welt bot, als der Begriff Open World noch gar nicht existierte. Als man bei Spielen kaum mehr tun konnte als nach links und rechts zu lenken und zu schießen, lasen Spieler selten Anleitungen – deshalb haben es viele nicht verstanden. Die Spielmechanik erlaubte es zum Beispiel, mit dem Feuerknopf am Joystick neun Funktionen auszulösen."

Die Doku "Atari – Game Over" bringt es wohl auf den Punkt: "E.T. wurde nicht vergraben, weil es das schlechteste Spiel aller Zeiten ist. Man hielt es für das schlechteste Spiel aller Zeiten, weil es vergraben wurde."

"Videospiele galten schon immer als Modeerscheinung", meint Leonard Herman. "Als der Markt zusammenbrach und neue kostengünstige Computer zum Spielen lockten, hatten die meisten Menschen das Gefühl, dass die Zeit der Konsolen vorbei sei."

Diese Erinnerung teilt der langjährige Spieler Fritz Schober: "Der Commodore 64 war in allen Belangen besser als die Konsolen, als etwa ColecoVision und Atari 5200. Zu einem Computer ließen sich auch die Eltern leichter überreden, weil man erzählen konnte, dass es dafür Lernsoftware gäbe. Ich hatte sogar einen Vokabeltrainer für Latein. Erst als das NES 1986 erschien und wir Mario im Supermarkt spielten, wurden Konsolen wieder interessant. Wir waren begeistert vom Controller und vom Gameplay. Aber die Preise waren abschreckend, zumal sich C64-Spiele einfach kopieren ließen. Und im Jahr darauf erschien schon der Amiga 500 und setzte neue Maßstäbe in Bild und Ton."

Doch die Konsolen steigen aus der Asche. Das NES verkauft sich 62 Millionen Mal, doppelt so oft wie das Atari 2600. SEGA gesellt sich dazu. In den Neunzigerjahren übernimmt die Playstation. 2001 steigt Microsoft mit der Xbox in den Ring. Und Ende 2023 soll das Atari VCS+ als Remake des Klassikers erscheinen. Womit wir wieder beim Anfang wären.

(bme)