Klimawandel: Warum die Kippelemente des Klimas früher kollabieren könnten

Um das Klima steht es offenbar schlimmer als gedacht: Es gibt mehr Kipppunkte und diese könnten früher ausgelöst werden. Doch es gibt auch Hoffnung.

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(Bild: nicostock/Shutterstock.com)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Hanns-J. Neubert
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In einer umfangreichen neuen Studie kommt ein internationales Team namhafter Klimaforscher zu dem beunruhigenden Ergebnis, dass mehrere gefährliche Kipppunkte des Erdklimas schon dann ausgelöst werden können, wenn die globale Temperatur die Grenze von 1,5 Grad Celsius über dem vorindustriellen Wert überschreitet.

Schon jetzt, wo die Erdtemperatur erst bei etwas über 1,1 Grad liegt, bestehe die Gefahr, dass die Erde fünf gefährliche Klimakipppunkte überschreitet, so die Autoren, wodurch Korallenriffe, Permafrostböden und Polareis in Gefahr sind. Eine Erwärmung von nur 0,8 Grad könnte bereits den Rückgang des grönländischen Eisschilds beschleunigen und bereits eine Erwärmung von 1 Grad könnte das westantarktische Eisschild auf einen Kollaps zusteuern lassen. Mit jedem zusätzlichen Zehntel Grad Erwärmung würden die Risiken immer weiter steigen. Die Forscher zogen für ihre Analyse Daten aus alten Erdzeitaltern und von aktuellen Beobachtungen heran, verglichen die Szenarien unterschiedlicher Klimamodelle und werteten mehr als 200 neuere Literaturquellen aus. Ihr Resümee: Die Erde könnte bereits jetzt ihren sicheren Klimazustand verlassen haben.

Damit würde selbst das Ziel des Pariser Klimaabkommens von 2015 nicht mehr ausreichen, um einen gefährlichen Klimawandel vollständig zu vermeiden. Damals einigte sich die Welt darauf, die Erwärmung auf deutlich unter 2 Grad, vorzugsweise auf 1,5 Grad zu begrenzen. Doch zwischen 1,5 und 2 Grad wird es deutlich wahrscheinlicher, dass ein Kipppunkt ausgelöst wird – ganz zu schweigen von den Risiken jenseits der 2-Grad-Grenze. Dabei dürfte die Welt derzeit geradezu auf eine globale Erwärmung von zwei bis drei Grad zusteuern.

Bis vor Kurzem ging die Klimawissenschaft nur von neun Kipppunkten aus. Die neue Analyse kommt jetzt aber auf 16 wichtige biophysikalische Systeme – Kippelemente –, die das Erdklima grundlegend regulieren. Sie alle haben das Potenzial, Kipppunkte zu überschreiten. Wenn das passiert, dann wird ein Eisschild, ein Ozean oder ein Regenwald sich auch dann noch weiter in einen neuen Zustand umwandeln, wenn die Temperatur nicht weiter steigt. Das passiert nicht von heute auf morgen; so ein Übergang ohne Umkehr kann Jahrzehnte bis Jahrtausende dauern. Ökosysteme und atmosphärische Zirkulationsmuster ändern sich beispielsweise relativ schnell. Der Zusammenbruch eines Eisschilds dauert mit Tausend und mehr Jahren dagegen sehr viel langsamer, lässt den Meeresspiegel aber allmählich und unaufhaltsam um mehrere Meter steigen.

Die Forscher unterteilten die Kippelemente in zwei Kategorien, nämlich neun Gebiete, deren Zusammenbruch das gesamte Erdsystem beeinflusst, und sieben, deren Kollaps immerhin tiefgreifende regionale Folgen hat. Zur ersten Kategorie gehören beispielsweise die Gletscherabbrüche in der Antarktis und das Verschwinden des Amazonas-Regenwald. Zur zweiten zählen Veränderungen beim Regen bringenden, westafrikanischen Monsun und das Absterben der Korallenriffe in Äquatornähe.

Neu in der Liste der Kippelemente sind die Konvektion in der Labradorsee, ein Teil des weltumspannenden, ozeanischen Förderbandes, bei dem kaltes Ozeanwasser in die Tiefe absinkt, und die Eisschilde in der Ostantarktis. Als risikolos gelten dagegen jetzt das schwindende Sommer-Meereises in der Arktis, das bei sinkender Erdtemperatur auch wieder zunimmt, und das El-Niño-Phänomen im Pazifik vor Peru und Chile, weil es für dessen Klimaempfindlichkeit nicht genug Beweise gibt.

Allerdings warnt Ricarda Winkelmann, Forscherin am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung vor Wechselwirkungen, weil sich Kippelemente gegenseitig mit unabsehbaren Folgen beeinflussen können: "Viele Kippelemente im Erdsystem sind miteinander verknüpft, was ein ernsthaftes, zusätzliches Problem ist. Tatsächlich können Wechselwirkungen die kritischen Temperaturschwellen senken, ab denen sich einzelne Kippelemente langfristig zu destabilisieren beginnen." Die Studie ist eine erste Reaktion auf das dramatischen Perspektiven-Papier zahlreicher Klimaforscher mit dem Titel "Climate Endgame", "Klimaendspiel". Darin forderten sie Anfang August, dass sich die Klimaforschung viel stärker auch mit den unwahrscheinlichen, aber eben besonders dramatischen Szenarien auseinandersetzten müsse. "Wir haben einen ersten Schritt getan, um die Welt über Kipppunktrisiken zu informieren", sagte Hauptautor David Armstrong McKay deshalb auch.

Die Studie diente außerdem auch zur Vorbereitung der großen Wissenschaftskonferenz "Kipppunkte - Von der Klimakrise zum positiven Wandel", die vom 12. bis 14. September in englischen Exeter stattfand. Organisatoren waren Tim Lenton, Direktor des Instituts für Globale Systeme, und Johan Rockstrom, Direktor des Potsdam Instituts für Klimafolgenforschung. Nachdem die bisherigen Wissenschaftsnachrichten vom Klima meist eine Schocktherapie waren, ging es dort darum, positive Kipppunkte auszumachen. Denn vor allem viele Sozialwissenschaftler befürchten eine mentale Überforderung der Menschen durch Katastrophen- und Krisennachrichten und wünschen sich Mut machende Signale.

"Um dies zu erreichen, müssen wir jetzt positive soziale Kipppunkte auslösen, die den Übergang zu einer sauberen Energiezukunft beschleunigen", ist Lenton überzeugt, der auch an der Kipppunktstudie mitschrieb. Er fügt hinzu: "Wir müssen uns möglicherweise auch anpassen, um mit Klimakipppunkten fertig zu werden, die wir nicht vermeiden können, und wir müssen diejenigen unterstützen, die nicht versicherbare Verluste und Schäden erleiden könnten."

McKay sieht sogar einen Hoffnungsschimmer: "Die Wahrscheinlichkeit des Überschreitens von Kipppunkten kann durch eine rasche Reduzierung der Treibhausgasemissionen verringert werden, und zwar ab sofort!"

Da könnte er durchaus richtig liegen. Michael E. Mann, einer der bekanntesten Atmosphärenforscher, und zwei seiner Kollegen wiesen im Februar in der Washington Post nämlich auf neuere Studien hin, nach denen es schon nach drei bis fünf Jahren an den Erdtemperaturen zu merken wäre, wenn die Menschheit den Ausstoß an Treibhausgasen sofort stoppen würde.

(bsc)