"Wearable Computing steht noch ganz am Anfang"
Genevieve Bell, Direktorin des User-Interface-Labors beim Chip-Riesen Intel, über tragbare Elektronik – und die Frage, ob Samsung, Google und Co. mit ihren Computeruhren und Datenbrillen richtig liegen.
- Tom Simonite
Genevieve Bell, Direktorin des User-Interface-Labors beim Chip-Riesen Intel, über tragbare Elektronik – und die Frage, ob Samsung, Google und Co. mit ihren Computeruhren und Datenbrillen richtig liegen.
Als Direktorin der "Interaction and Experience Research Group" bei Intel hilft die Anthropologin Bell dem Halbleiterkonzern dabei, zu verstehen, wie seine Hardware in die Welt der Anwender passt. Ihr Team besteht aus Sozialwissenschaftlern, Designern und Ingenieuren, die dazu Menschen auf der ganzen Welt befragen. Hauptziel ist es, Informationstechnik im Alltag zu beobachten.
Bell untersuchte zuletzt, wie Nutzer mit tragbarer IT, auch Wearable Computing genannt, umgehen – und ob sich die Technik durchsetzen kann. Die aktuellen Produkte, die Firmen wie Google mit der Datenbrille Glass oder Samsung mit der Smartwatch Galaxy Gear auf den Markt gebracht haben, überzeugen die Forscherin noch nicht, wie sie im Interview mit Technology Review erläutert.
Technology Review: Frau Bell, zu welchen Schlüssen sind Sie bei Ihrer Forschung im Bereich Wearable Computing bislang gekommen?
Genevieve Bell: Zunächst muss man sich bewusst machen, dass das Thema kein grundsätzlich neues ist. Die Menschen haben schon vor Jahrhunderten Panzer, Schwerter und viele andere Dinge ständig an ihrem Körper getragen, die jeweils dem neuesten Stand der Technik entsprachen. Aus diesem Ansatzpunkt heraus muss man die aktuell aufgeflammte Obsession zu Wearables verstehen und beurteilen, wie sich der Bereich entwickelt: Tragbare "Hardware" gab es immer.
Historisch hatte sie dabei stets zwei Funktionen. Die eine war die tatsächlich praktische – sie erledigte immer eine bestimmte Aufgabe, um unser physisches Sein zu erweitern oder unsere körperliche Reichweite zu erhöhen. Die andere Funktion war immer auch symbolisch, unsere Technik kommunizierte mit der Umwelt. Meine Rüstung und mein Wappen zeigten: "Ich bin Teil Deiner Gruppe, lass' mich in Frieden." Eine Uhr vor vielleicht 200 Jahren sagte: "Ich habe nicht nur das Geld, mir ein solches Wunderwerk zu leisten, sondern ich glaube auch an den Wert der Pünktlichkeit."
Was mich nun an Wearable Computing besonders interessiert, ist die Frage, wie man diese beiden Dinge zusammenbringt, die rein praktische als auch die symbolische Funktion.
TR: Existieren diese zwei Seiten denn auch beim Wearable Computing?
Bell: Unbedingt. Die Herausforderung in diesem Moment liegt darin, dass wir es bislang vor allem mit dem praktischen Teil zu tun haben, nicht mit dem symbolischen. Das, was man an seinem Körper trägt, ist grundsätzlich eine rein persönliche Entscheidung. Was andere hier hineinlesen, liegt oft außerhalb unserer Kontrolle, denn die Menschen erkennen die Symbolik, die stets mitschwingt. Beim Wearable Computing beschäftigen wir uns noch zu sehr mit der praktischen Funktion, nicht mit der Frage, wie die Technik von anderen verstanden wird.
TR: Kann diese fehlende emotionale Aufladung durch Technologiefirmen erfolgen oder muss sich die Gesellschaft ändern, damit Wearable Computing gleichsam einen Sinn ergibt?
Bell: So etwas passiert immer in beiden Bereichen, glaube ich. Schauen Sie sich beispielsweise konventionelle Uhren an, die vom Zeitmesser zum echten Statement wurden.
Bei diesem Sprung hin zu wirklich tragbaren Computern gibt es einige interessante Herausforderungen. Ist ein Smartphone eigentlich nur ein kleinerer Laptop, mit dem man auch telefonieren kann? Ist die nächste Generation von Fernsehern nur ein großer Laptop? Smartphones wurden erst dann für viele Menschen spannend, als die Leute begannen, sie nicht mehr als Telefone wahrzunehmen. Meiner Ansicht nach ist das zentrale Versprechen eines Smartphones heutzutage, dass es einem mit einem solchen Gerät niemals langweilig wird. Man hat immer etwas zu tun! Die Leute haben die Vorstellung verdrängt, dass ein Smartphone ein Telefon ist. Es ist ein Spielgerät oder ein Fotoapparat.
Ich denke, dass wir im Bereich des Wearable Computing immer noch zu sehr mit den alten Metaphern der PC-Welt operieren und Smartwatches, Computerbrillen und andere Geräte auf ihre Funktionalität beschränken. Sie sollen ein kleineres Smartphone oder ein kleinerer Laptop sein. Der Markt dürfte wesentlich interessanter werden, wenn wir diese Vorstellung beerdigen und das wahre Versprechen herausarbeiten, das diese Hardware für uns einlösen könnte.
Für mich ist der Sektor noch ganz am Anfang, wir haben diese Ideen überhaupt noch nicht herausgearbeitet. Wir müssen uns erst gedanklich befreien, bevor wir diese spannenden technischen Entwicklungen adäquat nutzen können. (bsc)