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Web2.0-Konferenz: Im Info-„Dreck“ nach Gold graben

Steffan Heuer

Transparente Online-Dienste krempeln langsam, aber sicher Unternehmen und ihre Geschäftsmodelle weltweit um.

Das Geschäft im und mit dem Internet boomt wie seit Jahren nicht mehr und reißt dabei die gesamte „alte Wirtschaft“ mit. Die Gründe verbergen sich hinter dem handlichen Etikett „Web2.0“ – einem Sammelbegriff für interaktive Web-Dienste, bei denen Anbieter wie Amazon.com oder Google ihre Schnittstellen zu Daten und Programmen (APIs) offen legen, sodass sich Software mit Software austauschen kann. Das erlaubt jedem Nutzer nicht nur endlose Kombinationsmöglichkeiten, sondern bietet auch ungeahnt viele Chancen, die Augäpfel und Transaktionen von Web-Surfern zu Geld zu machen – von YouTube-Videos über dynamische Satellitenkarten bis zu sich selbst platzierenden Banneranzeigen.

Sammelpunkt der Web2.0-Gemeinde ist seit drei Jahren eine Konferenz gleichen Namens, die der Technologie-Verleger Tim O´Reilly 2004 ins Leben rief und damit dem Phänomen einen griffigen Namen gab. Inzwischen ist die Veranstaltung offiziell zu einem „Gipfeltreffen“ umbenannt, auf dem in diesem Jahr rund 1.500 zahlende Gäste in San Francisco erschienen. Weitere 5.000 Interessenten mussten abgewiesen werden, so dass O´Reilly und sein Mitveranstalter, der Hightech-Journalist John Battelle, für April 2007 eine zweite Konferenz namens Web2.0 Expo ins Leben gerufen haben.

„Der große Umsturz fängt gerade erst an“, erklärt O´Reilly in einem neuen Statusbericht, in dem auf gut 90 Seiten die wichtigsten Triebkräfte und Konsequenzen des Web2.0-Booms aufgelistet sind. Web-Anwendungen werden danach verstärkt in Unternehmen Einzug halten, nachdem sie sich bei Verbrauchern zu explosiv wachsenden Hits entwickelt haben.

Der neue Boom lässt sich in harten Dollar messen. Laut neuesten Zahlen von Dow Jones VentureOne und Ernst & Young flossen in den ersten neun Monaten dieses Jahres rund 455 Millionen Dollar Risikokapital an insgesamt 79 Web2.0-Firmen – mehr als doppelt so viel als im Vorjahreszeitraum. Damit ziehen Web2.0-Unternehmen inzwischen knapp ein Drittel aller VC-Investitionen in neue Verbrauchertechnologien in den USA auf sich. Die anhaltende Hausse an der Wall Street spült etablierten Online-Namen zudem mehr Geld in die Kriegskasse, um Startups zu schlucken. So liegt die Marktkapitalisierung der fünf größten Internetfirmen mit knapp 260 Milliarden Dollar um 50 Prozent höher als auf dem Höhepunkt des NASDAQ-Booms im März 2000.

O´Reilly identifiziert in seinem Statusreport sechs Faktoren, die den Markt für Web-Dienste vorantreiben. Die Nutzerbasis ist global, Kunden sind immer online und greifen von überall auf Web-Dienste zu. Sie sind viertens nicht nur passiv verbunden, sondern nehmen engagiert teil. Für die Anbieter haben sich nicht nur die Herstellungskosten dramatisch verringert, sondern auch neue Chancen aufgetan, um Umsatz zu generieren.

Wer dabei erfolgreich sein will, so O´Reilly, muss die „kollektive Intelligenz“ seiner Nutzer für die eigene Unternehmung einspannen, sodass Software und Services umso besser und wertvoller werden, je mehr Menschen sie nutzen. Man muss zudem bereit sein, sich auf kleinste Nachfrage-Nischen – den so genannten „Long Tail“ einzustellen – und im ständigen Beta-Zustand arbeiten, also kontinuierliche Verbesserungen vornehmen.

Das rasante Wachstum im neuen Web beginnt sich bereits zu rechnen. Zum Beispiel für das größte Social-Networking-Drehkreuz MySpace, dessen rund 56 Millionen monatliche Besucher für Bestückung und Unterhalt ihrer Seiten die eigene Zeit investieren. Sie bauen damit für die News Corp. Tochter Fox Interactive Media, die MySpace Ende 2005 für 580 Millionen Dollar kaufte, eine kostenlose Werbekundschaft auf, die beständig weiterwächst.

So richteten alleine im Oktober rund 320.000 Menschen pro Tag eine eigene Seite auf MySpace ein. „Die Zeit, die unsere Nutzer bei uns verbringen, ist im vergangenen halben Jahr um 30 Prozent gestiegen“, berichtete Ross Levinsohn, FIM General Manager. Auch wenn die Nutzer in europäischen Märkten wie Deutschland bislang ausbleiben – die Investition macht sich weniger als ein Jahr nach der Akquisition bereits bezahlt. Google zahlt News Corp. über die nächsten drei Jahre 900 Millionen Dollar, um dessen Surfern maßgeschneiderte Suchergebnisse und Anzeigen zu servieren.

Ebenso verhandelt Google mit traditionellen Medienkonzernen, um den Übergang von der Offline-Welt zu Webdiensten so einfach wie möglich zu machen. Mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt die Branche offene Fragen rund um Urheberrechte und Werbeeinnahmen für YouTube. Die Seite für Videosharing, die Google gerade für 1,65 Milliarden Dollar gekauft hat, ist der neueste Beleg, dass so genannte „Nutzer generierte Inhalte“ die Web-Wirtschaft beflügeln. „Wir sprechen mit so vielen Firmen wie möglich, um Partnerschaften aufzubauen“, verriet Google-CEO Eric Schmidt den Konferenz-Teilnehmern. „Wir haben dank unserer anderen Geschäftsbereiche eine ziemlich gute Idee, wie wir den Verkehr auf YouTube monetarisieren können.“ Er wies Berichte als „unwahr“ zurück, dass knapp ein Drittel des Kaufpreises als „Schweigegeld“ für prozessierfreudige Medienkonzerne vorgesehen sei.

Neben den brisanten Video-Verhandlungen hat Google gerade Deals mit rund 50 amerikanischen Tageszeitungen unterzeichnet, sodass auch Kleinkunden ihre Inserate wahlweise im Web oder auf Papier schalten können, und baut einen Werbdienst für Radiosender im ganzen Land auf. Die Platzierung von Anzeigen rund um Web-Texte ist inzwischen zu einem Standard geworden, an dem alle Parteien verdienen. So teilen Google und Yahoo rund 30 Prozent ihres Umsatzes mit Partnern – von kleinen Bloggern bis zu großen Webseiten. Offene Schnittstellen und Millionen von Blogs, dank deren sich Inhalte wie ein Lauffeuer ausbreiten, stellen für die alte Medienwelt jedoch „keine Gefahr“ dar, sagte der Herausgeber der New York Times, Arthur Sulzberger Jr. So sei Google inzwischen der mit Abstand größte Geschäftspartner des Zeitungsimperiums.

Eine der großen ungelösten Fragen, die über allen Diskussionen auf dem Web2.0-Gipfel schwebte, ist die Suche nach tragfähigen Geschäftsmodellen. Anzeigenmodelle für Video- und Audioinhalte, die entweder Medienkonzerne servieren oder Nutzer selber hochladen, sind erst im Entstehen begriffen, da weder das Format noch die Platzierung der Annoncen geklärt sind.

„Bessere gezielte Werbung ist einer der drei großen Trends für Web2.0“, sagte Toni Schneider, CEO von Automattic, Anbieter des Blog-Dienstes WordPress. Seine vorherige Firma Oddpost, die einen dynamischen Web-Mail-Klienten entwickelt hatte, wurde Mitte 2004 von Yahoo! gekauft. „Wir waren die erste Web2.0-Akquisition, bevor der Begriff überhaupt geprägt war“, so Schneider. Er startete anschließend das Entwicklernetzwerk beim neuen Eigentümer Yahoo! und öffnete ab 2005 die ersten Programmschnittstellen der Suchmaschine.

Heute experimentiert Yahoo! mit allen möglichen Modellen, um Inhalte von Nutzern für Nutzern aufzubereiten und offline wie online zu Geld zu machen. Ein Beispiel ist der Videoblog „The 9“, bei dem neun kurze Clips in neun Minuten vorgestellt werden. Der virtuelle Fernseher, den zwei Monate nach dem Start knapp sieben Millionen Zuschauer verfolgen, ist dabei in Hitparaden, Links, Kommentare und Sponsoren-Werbung eingebettet.

Gleichzeitig hat das Unternehmen gerade eine 2.000 Quadratmeter große Bühne in Los Angeles gebaut, auf der Stars Exklusivkonzerte geben werden. Diese von Nissan gesponserten „Music Live“-Events werden nicht nur für HD-TV aufgezeichnet, sondern sollen insbesondere von 250 Zuschauern auf Kamera-Handys mitgeschnitten und fotografiert werden – kostenlose Inhalte, mit denen Yahoo! sein Imperium von Webseiten bevölkern und neue Surfer sowie Anzeigenkunden anziehen kann. „Wir wollen von einer Hierarchie der Teilnahme zu einer Welt der zufälligen Künstler gelangen“, so Yahoo-Manager Eckart Walther.

Neben den nutzerbezogenen Anwendungen verdient die Arbeit hinter den Kulissen mindestens genauso viel Beachtung. Mehrere große Firmen sind dabei, eine umfangreiche IT-Infrastruktur aufzubauen, um anderen Unternehmen beim Servieren von Web-Diensten zu helfen. Einen Einblick in Amazons Strategie als Web2.0-Dienstleister [1] gab Gründer und CEO Jeff Bezos. Obwohl das Unternehmen als Pionier im Online-Einzelhandel und als Marktplatz für externe Händler bekannt wurde, offeriert Amazon inzwischen zehn Web Services.

„Wir sind seit elf Jahren in einem Geschäft mit großem Volumen und geringen Margen. Wir wissen, wie man skalierbare und verlässliche Web-Dienste betreibt“, sagte Bezos. So vermietet Amazon ungenutzte Kapazitäten auf seinen Servern als „Simple Storage Service“ (S3) und „Elastic Compute Cloud“ (EC2). Mit letzterem Dienst kann jedermann die Rechenleistung eines mit 1,75 Gigahertz getakteten Computers für zehn Cent die Stunde mieten. „Wir übernehmen die diffuse Schwerarbeit und kümmern uns um den Dreck“, umriss Bezos das Angebot.

Darüber hinaus kümmert sich Amazon um den automatisierten Vertrieb für Dritte. Sein Fulfillment-Service erlaubt es jedem Nutzer, eine Inventarliste über eine offene Schnittstelle auf dessen Rechner zu überspielen und anschließend die Waren an eines der Amazon-Lagerhäuser zu schicken. Der Verkauf mag irgendwo im Web stattfinden, aber sobald ein Käufer klickt, geht eine automatische Nachricht an Amazon, das sich um Verpackung und Versand kümmert.

„Damit werden unsere 930.000 Quadratmeter Lagerfläche zu einem Peripheriegerät für alle Programmierer – für 45 Cent pro Kubikfuß im Monat“, sagte Bezos. Er erwartet, dass solche Webdienste in absehbarer Zukunft einen bedeutenden Anteil an Amazons Umsatz ausmachen werden. Zu den Service-Kunden des wandlungsfähigen Buchhändlers gehören bereits Microsoft, Xerox Global Services und die virtuelle Welt Second Life.

Wer seine Millionen Nutzer geschickt nutzt, muss nicht einmal eine Infrastruktur-Armada aufbauen oder für ihren Einsatz bezahlen. Während Google mehrere hunderttausend Server betreibt, hat der populäre VoIP-Dienst Skype aufgrund seiner dezentralen P2P-Struktur gerade einmal zwei eigene Server. Er wickelt über die PCs seiner Benutzer die Anrufe und Chats von 136 Millionen Kunden ab. Verglichen mit herkömmlichen Telekomfirmen wäre Skype gemessen am Volumen internationaler Anrufe der weltweit drittgrößte Anbieter nach China Mobile und Vodafone, so Mary Meeker von der Investmentbank Morgan Stanley.

Skype-Gründer Niklas Zennström, der das Unternehmen vor rund einem Jahr an den Auktionsriesen eBay verkaufte, verteidigte die 1,3-Milliarden-Dollar-Fusion als den besten Deal zum richtigen Zeitpunkt. eBay, so Zennström, sei aufgrund seines enormen Umfangs an nutzergenerierten Inhalten die erste wirkliche Web2.0-Firma. Und die Synergien mit dem ebenfalls von eBay erworbenen Online-Bezahlungsdienst PayPal seien enorm. So würden 22 Prozent aller Skype-Rechnungen mit PayPal bezahlt. Für die in Kürze erhältliche Skype Version 3.0 kündigte Zennström mehr soziale Kommunikation an, um seine „Erfahrungen” mit seinen Gesprächspartnern in Bild und nicht nur Ton zu teilen.

Neben offenen APIs, um Daten von Rechner zu Rechner springen zu lassen, fehlt es noch an offenen Formaten, um seine Inhalte wirklich tragbar zu machen. Adobe, Vater des Dateiformates PDF und frisch gebackener Eigentümer von Macromedias Flashplayer, gab Einblicke in sein Apollo-Projekt, das Anfang 2007 in einer Betaversion öffentlich verfügbar sein soll. Die Entwicklungsplattform erlaubt die Darstellung von HTML, PDF und Flash-Dateien in kleinen Widget-ähnlichen Programmen, die ohne Browser laufen. Mit den APIs von Diensten wie eBay oder FlickR gekoppelt, ist Apollo vor allem eine Kampfansage an Microsoft, wie Adobe-Chef Bruce Chizen auf der Konferenz genüsslich darlegte.

Mehr Kontrolle für den Endverbraucher über seine eigenen Kreationen ist ein bislang ungelöstes Problem. Wer heute Stunden auf Seiten wie MySpace zubringt, kann seine dort abgelegten Texte, Bilder, Videos oder Musik nicht auf Knopfdruck exportieren und zu einem anderen Dienst befördern. Ein Alternativmodell namens Vox startet die Blog-Plattform Six Apart, die unter anderem TypePad und LiveJournal anbietet. CTO Ben Trott erklärte, dass sein neues Social Network auf bislang sechs APIs von FlickR, Amazon und YouTube zugreift sowie mehrere gängige Blog-Formate versteht, um Nutzerinhalte und andere Daten zu im- oder exportieren, wie man es heute mit Adressbuch- oder Kalendereinträgen gewohnt ist. Dazu hat Six Apart einen neuen Standard namens Open Media Profile entwickelt.

Bleibt der Ausgang geschlossen, entsteht ein „Lock-In“ Effekt. Offenheit ist einer der entscheidenden Faktoren der Web2.0-Welt, um die Loyalität der Nutzer zu erhalten, so Google-Chef Schmidt: „Wir werden nie die Daten unserer Nutzer einsperren. Solange wir die Rechte unserer Endnutzer respektieren, wird es uns gut gehen.“ Der Gedanke lässt sich auch auf das lukrativste Geschäft im Web ausdehnen – die Suche. Google denke darüber nach, verriet Schmidt, wie Nutzer ihre gesamte Suchhistorie exportieren können. Wer mit seinen Suchdaten hausieren geht, könnte am Ende vielleicht sogar dafür bezahlt werden. (wst [2])


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[1] https://www.heise.de/meinung/und-das-sollte-alle-gluecklich-machen-278991.html
[2] mailto:wst@technology-review.de