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Weiche Hardware

Dr. Wolfgang Stieler

Die übernächste Generation von Robotern wird anpassungsfähiger als je zuvor. Sie kann sogar ihre Gestalt verändern.

Die übernächste Generation von Robotern wird anpassungsfähiger als je zuvor. Sie kann sogar ihre Gestalt verändern.

Die Hand hat keine Finger. Braucht sie auch nicht. Stattdessen stülpt sich ein faustgroßer violetter Gummiball über den Kaffeebecher. Der Roboter hebt seinen Arm – und der Becher hängt wie festgeklebt daran. Der Arm fährt herunter und gibt den Becher wieder frei. "Das klappt sogar mit rohen Eiern", sagt Hod Lipson, Robotiker an der Cornell University in Ithaca, triumphierend.

Wenn man die Lösung weiß, ist der Trick ganz simpel. Die Forscher nutzen einen Effekt, den jeder aus der heimischen Küche kennt: Ein frisch gekaufter, vakuumverpackter Beutel Kaffee ist steinhart. Reißt man die Tüte auf, wird sie weich. Lipson und Kollegen lassen das Ganze nun gerade umgekehrt ablaufen. Erst ist der Gummiball, ebenfalls mit Kaffeebohnen gefüllt, weich und passt seine Form jedem Gegenstand an. Dann pumpen sie die Luft heraus, und das Innere wird hart – der Greifer hält das Objekt fest. Strömt anschließend wieder Luft in den Ball, gibt der das gegriffene Objekt frei.

"Uns haben Leute gemailt und gefragt, warum es bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts gedauert hat, so etwas zu entwickeln", sagt Lipson. Die Idee funktioniert so gut, dass gleich mehrere Unternehmen daraus Produkte entwickeln wollen. Welche das sind, will Lipson nicht verraten. So ein Greifer, erklärt er aber, sei vor allem für Anwendungen interessant, bei der Roboter immer wieder neue Gegenstände bewegen müssen. Aber für Lipson ist der Greifer weit mehr als nur eine elegante technische Lösung. Er verkörpert ein neues Prinzip, das die Robotik völlig auf den Kopf stellt: "soft robotics".

Mit dem Begriff umschreibt Lipson in diesem Fall weit mehr als nur Leichtbauroboter mit flexiblen Gelenken, die Kollisionen verhindern sollen. Er meint flexible Maschinen, die ihre Form an die jeweilige Aufgabe anpassen – so wie der Greifer sich an das zu greifende Objekt anschmiegt. "Wenn Sie sich in der Natur umsehen, stellen Sie fest, dass alle Lebewesen weich und flexibel sind. Sie können sehr viel mehr tun als Roboter mit harten, steifen Materialien", sagt Lipson. "Man kann einen Teil der Aufgabe allein auf das Material verlagern." So wie bei seinem Greifer: Es ist keine komplizierte Software notwendig, um zunächst die Form des zu greifenden Gegenstandes zu ermitteln, damit dann die Roboterhand dazu passend anzugesteuert werden kann.

Wie das praktisch funktioniert, demonstriert beispielsweise auch der "bionische Handling Assistent" der Esslinger Firma Festo. Der pneumatisch betriebene Greifarm, einem Elefantenrüssel nachempfunden, besitzt an seiner Spitze ebenfalls eine weiche, dreifingrige Hand. Sie passt sich ähnlich perfekt wie das natürliche Vorbild an den zu greifenden Gegenstand an. Für das Design wurde das Unternehmen 2010 mit dem Deutschen Zukunftspreis ausgezeichnet.

Dass man auch ohne finanzstarke Unternehmen im Rücken solche Roboter bauen kann, zeigt Matthew Borgatti. Der Designer mit den grünen Haaren präsentierte auf dem Hackerkongress 29C3 in Hamburg unter der Überschrift "Drucke deinen eigenen Roboter aus" einen Silikon-Tentakel: Er kann sich ausstrecken und aufrollen, drehen und tasten wie der Arm einer echten Krake – und lässt sich dabei ganz simpel über den Luftdruck in vier Kammern steuern. Sein neuestes Projekt ist ein Vierfüßer, der sich wie ein Gecko bewegt. Borgattis Vision: Eine aktive Online-Community entwickelt Gussformen, die jeder auf einem 3D-Drucker produzieren kann. Die eigentlichen Roboterteile werden dann aus Silikon in diesen Formen gegossen.

Auch Lipson ist überzeugt, dass die Verbreitung von 3D-Druckern die Entwicklung von amorphen Robotern entscheidend vorantreiben wird. Das Ziel seien Roboter, die mehr Amöben ähneln als Maschinen, die beliebig wachsen oder schrumpfen, dicker oder dünner werden, sich zu Kugeln zusammenrollen oder Tentakel ausstrecken können. "Mit solchen Maschinen", ist Lipson überzeugt, "kann man Dinge tun, die wir uns heute noch gar nicht vorstellen können."

Damit aus den Visionen Wirklichkeit wird, benötigen Lipson und seine Mitstreiter allerdings "programmierbare Materie". So nennen sie Materialien, deren physikalische Eigenschaften sich gezielt verändern lassen – und deren Veränderungen wieder rückgängig zu machen sind. Sie gibt es bisher zwar noch nicht. Aber die technischen Grundlagen dafür sind gelegt, ist Lipson überzeugt.

Mit solchen Formgedächtnis-Kunststoffen experimentieren Forschergruppen bereits weltweit – daneben aber auch mit anderen Methoden wie Phasenwechsel-Materialien, elektronischen Mikromaschinen und Nano-Kompositen. Phasenwechsel-Materialien zum Beispiel verändern ihren Zustand von fest zu flüssig und umgekehrt, wenn man ein Magnetfeld an sie anlegt. Mikromaschinen ermöglichen die Integration von Sensoren und Motoren in ein Material, und Nano-Komposite können für den Bau künstlicher Muskeln verwendet werden, die sich elektronisch gesteuert zusammenziehen oder ausdehnen.

Dario Floreano von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne, Leiter des Laboratory of Intelligent Systems (LIS), arbeitet an einem der wohl futuristischsten Roboterkonzepte der Gegenwart: Er will seine Maschinen aus vielen, voneinander unabhängigen Einheiten aufbauen. Ähnlich lebenden Muskelzellen, sollen sich diese "Neubot"-Zellen, wie er sie nennt, ausdehnen und zusammenziehen, härter oder weicher werden. Damit der Roboter seine Gestalt verändern kann, sollen sie aber auch verschieden stark aneinanderhaften.

Wie das in Zukunft aussehen könnte, zeigt Floreano an durchsichtigen Plastikblasen, die aussehen wie aufgepumpte Ein-Liter-Gefriertüten. Der Luftdruck im Inneren der Blasen lässt sie härter oder weicher werden. Außerdem ist jede Blase mit einer schneckenförmigen, einige Zentimeter großen Elektrode verziert. Schließt Floreano diese an eine Hochspannungsquelle an, haften die Blasen elektrostatisch aneinander – und zwar überraschend fest: Bis zu zehn Kilogramm kann so eine Verbindung halten, wenn man eine Spannung von 3000 Volt anlegt. Trotz der Hochspannung sei das System weder besonders gefährlich noch energieaufwendig, beruhigt er. Denn da der Effekt rein elektrostatisch sei, fließe so gut wie kein Strom.

So improvisiert die Plastikblasen auch auf den ersten Blick aussehen – sie zeigen, dass die Idee grundsätzlich funktioniert. Im nächsten Schritt wollen Floreano und seine Kollegen die Zellen mit "rechnerischer Intelligenz" ausstatten. Denn auch die Software für die Steuerung von flexiblen Robotern muss völlig neu erfunden werden: In herkömmlichen steifen Robotern modelliert eine zentrale Steuerung jede Bewegung, bevor der Roboter sie ausführt. Ein Ergebnis dieser Simulation sind die konkreten Kommandos, die an die Motoren des Roboters weitergegeben werden. Spezielle Regelkreise sorgen dann dafür, dass die Bewegung tatsächlich so abläuft wie geplant.

Dieses Verfahren funktioniert ganz gut, wenn das Robotergehirn 20 oder 30 Motoren ansteuern muss. Aber es kapituliert, wenn es Tausende einzelne, unabhängige Einheiten lenken soll, wie das in der neuen Robotergeneration der Fall sein wird.

Die Lösung heißt Dezentralisierung: Dann misst jede Zelle ständig, welcher Druck in ihrem Inneren herrscht und wie sie mit anderen Zellen verbunden ist. Sie speichert diese Daten – und arbeitet anhand dieser Informationen ein einfaches Programm ab. Aus dem Zusammenspiel aller Zellen ergibt sich, was der Roboter als Nächstes tut. Damit kann man Dinge anstellen, die wir bisher nur aus Science-Ficiton-Filmen kennen: Kyle William Gilpin hat im Rahmen seiner Doktorarbeit am MIT "intelligente Kieselsteine" am Rechner simuliert, die selbstständig Gegenstände kopieren. Steckt Gilpin beispielsweise einen Schraubenschlüssel in seinen Sack, der mit den schlauen Steinchen gefüllt ist, umhüllen diese den Schraubenschlüssel und "lernen" so die fremde Form kennen. Anschließend bauen sie die Form des Schlüssels nach.

Das klappt, weil jeder der würfelförmigen Steinchen auf allen sechs Seiten Sensoren und Magnete besitzt. Mit den Magneten hängt er sich an einen anderen Würfel und spürt über die Sensoren, dass er jetzt mit einem anderen Steinchen verbunden ist. Tasten die Steinchen also eine fremde Form ab, versuchen sie sich erst mit allen ihren Nachbarn zu verbinden. Anschließend prüfen sie, ob sie an einer ihrer Seiten etwas anderes spüren als einen Würfel. Jeder, der das tut, meldet sein Abtast-Ergebnis an alle anderen Steinchen weiter. Aus der abgetasteten Form berechnen die Würfel ein Modell des Gegenstandes und übermitteln auch das an alle anderen.

Leider klappt das bislang nur in der Simulation – zumindest dreidimensional und im großen Stil mit bis zu tausend schlauen Steinen. In der echten Welt haben Gilpins Kollegen am Computer Science and Artificial Intelligence Laboratory aber immerhin schon Würfel mit einem Zentimeter Kantenlänge hergestellt, die den Trick zweidimensional auf einer speziellen Tischoberfläche vorführen können. Das Ergebnis ist verblüffend.

Aber für Hod Lipson von der Cornell University ist das alles nur ein erster Schritt. Natürlich müsse man Materialien entwickeln, mit denen man solche Roboter bauen kann, sagt er. "Es geht aber auch darum, wie wir solche Maschinen im Voraus entwerfen und planen können." Denn vorherzusehen, wie sich weiche Materialien verhalten und was sie letztendlich entwickeln, sprenge die menschliche Vorstellungskraft, sagt er. "Als Ingenieure haben wir eine grobe Vorstellung davon, wie sich harte Körper verhalten, etwa wie sich Stangen bewegen oder Räder und Getriebe. Aber weiche Maschinen?" Roboter, deren Form sich verändern kann, bräuchten eigentlich für jede Form eine neue Steuerung. Lipsons Lösung ist eine Software, in der flexible, amorphe Roboter sich vollautomatisch entwickeln – Hard- und Software jeweils zusammen.

Zur Veranschaulichung zeigt Lipson ein Video. Auf dem Bildschirm ist ein Ding zu sehen, das aussieht wie ein Sack voller Würfel aus Götterspeise, in dem sich ein Knäuel junger Katzen balgt. Es wölbt sich an verschiedenen Stellen aus, zittert und wackelt. Dann stellt es ein Ende hoch, tastet unsicher, kriecht wie eine Raupe, bevor es bebend wieder zu Boden fällt. "Manche Leute", sagt Lipson und lacht dabei, "finden das schon etwas gruselig."

Dieses Bauchgefühl entsteht nicht ohne Grund. Denn die Software arbeitet nach dem Prinzip der "evolutionären Algorithmen". Ähnlich wie bei der biologischen Entwicklung verläuft dieser Prozess nicht nach einem höheren Plan. Im Gegensatz zu Mutter Natur legt der menschliche Designer jedoch das Ziel der Entwicklung fest. Er entscheidet also beispielsweise, dass der Roboter möglichst schnell eine bestimmte Entfernung zurücklegen muss. Oder dass er höchstens ein Kilogramm wiegen oder eine bestimmte Größe nicht überschreiten darf. Schließlich gibt er noch die grundlegenden Materialeigenschaften an, aus denen das künstliche Wesen entstehen soll: zum Beispiel wie fest sie sein sollen oder wie dehnbar. "Dann", sagt Lipson, "drückt man auf die Enter-Taste und wartet." Zurzeit wartet man noch recht lange. Auf einem Cluster mit 32 Prozessoren dauert es rund eine Woche, bis die Ergebnisse im wahrsten Sinne des Wortes laufen.

Maschinen, die Maschinen entwerfen. Beginnen jetzt die Roboter, die Kontrolle zu übernehmen? "Je mehr wir das Design aus der Hand geben – und das betrifft nicht nur evolutionäre Algorithmen –, desto weniger verstehen wir die Ergebnisse", gibt Lipson zu. Dennoch bleibt er gelassen. Denn das bedeute ja schließlich nicht, dass wir die Kontrolle verlieren. "Wird ein Flugzeug konstruiert, gibt es auch niemanden mehr, der komplett versteht, wie die Maschine funktioniert. Aber wir können damit umgehen, wenn wir sie nur ausführlich testen. Ich finde das auch unbefriedigend. Aber so ist das nun mal mit immer komplexeren Systemen." (wst [1])


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