Werkzeuge aus der Natur

Denn die Ergebnisse der Evolution sind optimiert, materialsparsam und umweltfreundlich. Bionik bedeutet aber nicht pures Abkupfern, sondern das Lernen von der Natur und die Übertragung von Grundideen in die Technik.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht
Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Veronika Szentpetery

Weltweit laufen zahlreiche Forschungsprojekte für naturinspirierte Techniklösungen, handfeste Produkte gibt es gleichwohl erst wenige: Durchgesetzt hat sich zum Beispiel der Klettverschluss, der auf den gekrümmten, sich in den Fasern der Kleidung verfangenden Häkchen von Klettfrüchten fußt. Darüber hinaus gibt es selbst reinigende Fassadenfarben nach dem Vorbild der Lotusblatt-Oberflächenstruktur und Schwimmanzüge mit Haihautstruktur, die den Wasserwiderstand verringern, zu kaufen. Auch Unterwassermodems zur störungsfreien Datenübertragung auf der Basis der Delfinkommunikation und Leichtbau-Modellierungssoftware für Werkstücke, die auf den Wachstumsregeln von Bäumen und Knochen beruhen, sind bereits auf dem Markt, ebenso wie Optimierungsprogramme, die die Entwicklungsregeln der Evolution nutzen.

Die Bionik wächst zu einem wichtigen Entwicklungswerkzeug für Konzerne, vor allem aber auch für mittelständische Unternehmen heran. Autoproduzenten wie BMW, Opel, DaimlerChrysler, aber auch der Luft- und Raumfahrtkonzern EADS nutzen bereits seit Jahren Programme, die Bauteile wie Bäume und Knochen wachsen lassen. Und das Interesse der Industrie wächst: „Früher haben bei uns eher die Leute aus der Abteilung Zukunftsvisionen angeklopft. Heute sind es häufig die Leiter der Entwicklungsabteilung“, sagt Professor Thomas Speck von der Plant Biomechanics Group an der Universität Freiburg.

Schöne Erfolge, doch gleichzeitig warnen Bionik-Akteure angesichts der wachsenden Begeisterung vor allzu überzogenen Erwartungen: „Von der ersten Untersuchung über Prototypen bis zu ersten Produkten steigt der Aufwand exponentiell und dauert oft mehrere Jahre“, weiß Rudolf Bannasch, Geschäftsführer der Berliner EvoLogics GmbH. Um den Entwicklungsprozess zu unterstützen, hat das Bundesforschungsministerium vor kurzem – zusätzlich zu den bestehenden Fördertöpfen für bionisch inspirierte Technologieansätze – das Förderinstrument Biona beschlossen, mit dem gezielt marktnahe Entwicklungen unterstützt werden sollen.

Die Bionik gibt auch dem Industrie-Design neue Impulse, wie Axel Thallemer, Leiter des Studiengangs Industrial Design an der Kunstuniversität Linz und selbständiger Industrie-Berater, im Interview verrät. Eine sorgfältige Übertragung von Grundprinzipien der Natur führe so zu Produkten, die entgegen dem derzeitigen Trend zu einer rein äußerlichen Gestaltung und analog zu den Konstruktionen der Natur für die jeweiligen Anforderungen optimiert sind.

Die Konstruktions- und Statikprinzipien der Natur fließen inzwischen auch die in Entwürfe von Architekten ein, schreibt TR-Autorin Stefanie Gaffron – und sollen Hochhäuser leichter, stabiler und sicherer machen. Noch stehen keine bionischen Wolkenkratzer, da die Investoren die notwendigen Prüfkosten scheuen und auf konventionellen Hochhausbau setzen. „Erst wenn die Ressourcen zur Neige gehen und nicht mehr zu bezahlen sind, werden viele Investoren umdenken“, prognostiziert der Architekt Dirk Henning Braun.

Als Vorbild dienen bei weitem nicht nur Konstruktionprinzipien von Lebewesen. Am Beispiel des Reifenherstellers Continental zeigt TR-Redakteur Gregor Honsel, wie Naturwissenschaftler und Ingenieure die Regeln der Evolution als Vorbild nehmen. Diese setzten sie in evolutionäre Optimierungsalgorithmen um und entwickelten damit in kürzester Zeit neue Reifenprofile mit besseren Aquaplaning-Eigenschaften.

Auch bei Rechenverfahren lassen sich durch einen Blick in die Natur wichtige Fortschritte erreichen. So haben Wissenschaftler lernfähige künstliche neuronale Netze an die Arbeitsweise des menschlichen Gehirns angelehnt, schreibt TR-Redakteur Gordon Bolduan, und zwar für. Ein zusätzlicher einfacher Kniff erweitert die Möglichkeiten dieser Netze beträchtlich, wodurch sich mehr nur statische Probleme wie die Identifizierung von Gesichtern in einer Menschenmenge oder die Analyse von Handschriften möglich ist, sondern auch dynamische Fragestellungen lösbar werden, zum Beispiel lokale Wettervorhersagen und Windprognosen oder eine Verbesserung der digitalen Adresserkennung auf Paketen.

S. 62 TREND Die Nachfrage nach Naturlösungen wächst

S. 68 GRAFIK Überblick: Vorbilder und was daraus wird

S. 70 INTERVIEW Axel Thallemer über Naturwissenschaft im Design

S. 72 ARCHITEKTUR Immer höher hinaus mit bionischen Tricks

S. 74 REIFEN Evolutionssoftware für das optimale Profil

S. 76 COMPUTER Bessere neuronale Netze meistern Komplexität

Zusammenfassung aus Technology Review 11/2006. Das Heft ist ab dem 26. Oktober im Handel oder portokostenfrei online zu bestellen. (wst)