Wie Ingenieure die Coronavirus-Pandemie bekämpft hätten

Seite 2: Die Risiken wirklich bewerten

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Für Seth Guikema, Co-Direktor des Center for Risk Analysis and Informed Decision Engineering an der University of Michigan (und Mitarbeiter von Zelner bei anderen Projekten), besteht ein Schlüsselaspekt des ingenieurwissenschaftlichen Ansatzes darin, in die Ungewissheit einzutauchen, das Durcheinander zu analysieren und dann einen Schritt zurückzutreten, mit der Perspektive: "Wir müssen praktische Entscheidungen treffen, also wie groß ist die Rolle der Ungewissheit wirklich?" Denn wenn die Ungewissheit sehr groß ist – und wenn sie die "optimalen" Entscheidungen oder sogar die "guten" Entscheidungen verändert – dann ist es wichtig, darüber ein Bewusstsein zu entwickeln, sagt Guikema. "Aber wenn es sich nicht wirklich auf meine besten Entscheidungen auswirkt, dann ist es weniger wichtig."

Die Erhöhung der Durchimpfungsrate gegen SARS-CoV-2 in der Bevölkerung ist hier ein gutes Beispielszenario. Hier sollte selbst eine gewisse Ungewissheit darüber, wie viele Fälle oder Todesfälle die Impfung genau verhindert – in Verbindung mit der hohen Wahrscheinlichkeit, dass beides verringert wird und nur wenige unerwünschte Nebenwirkungen auftreten –, eine groß angelegte Impfkampagne nicht verhindern.

Ingenieure, so Holmes, sind auch sehr gut darin, Probleme in kritische Teile zu zerlegen, sorgfältig ausgewählte Werkzeuge anzuwenden und Lösungen unter Berücksichtigung von Einschränkungen zu optimieren. In einem Team von Ingenieuren, das eine Brücke baut, gibt es einen Spezialisten für Zement und einen für Stahl, einen Ingenieur für das Thema Windwirkung und einen Statiker. "All die verschiedenen Fachrichtungen arbeiten zusammen", sagt sie. Zelner hat die Idee der Epidemiologie als Ingenieurdisziplin von seinem Vater übernommen, einem Maschinenbauingenieur, der sein eigenes Unternehmen für die Planung von Gesundheitseinrichtungen gegründet hat. Aufgrund seiner Kindheit, in der er viel gebaut und repariert hat, gehört zu seiner Grundeinstellung als Ingenieur auch das Tüfteln – zum Beispiel das Verfeinern eines Übertragungsmodells als Reaktion auf bewegliche (Gesundheits-)Ziele.

"Oftmals erfordern diese Probleme iterative Lösungen, bei denen man Änderungen vornimmt, um festzustellen, ob sie funktionieren oder nicht", sagt er. "Man aktualisiert sein Vorgehen immer wieder, wenn mehr Daten eintreffen und man die Erfolge und Misserfolge seines Ansatzes sieht." Für ihn sei das etwas ganz anderes – und besser geeignet für die komplexen, nicht-statischen Probleme, die die öffentliche Gesundheit bestimmen – als die statische Vorstellung, die viele Menschen von der universitären Wissenschaft haben, "wo man eine große Idee hat, sie testet und das Ergebnis für alle Zeiten in Bernstein konserviert wird".

Zelner und seine Mitarbeiter an der Universität verbrachten viele Monate mit dem Aufbau einer COVID-19-Mapping-Website für Michigan, und er war an der Erstellung von Daten-Dashboards beteiligt – nützliche Tools für den allgemeinen Gebrauch. Dabei erkannte er jedoch eine zunehmende Diskrepanz zwischen diesen formalen Instrumenten und dem, was für die praktische Entscheidungsfindung in einer sich rasch entwickelnden Krise erforderlich war. "Wir wussten, dass es eines Tages zu einer Pandemie kommen würde, aber ich hatte mir noch keine Gedanken darüber gemacht, was meine Rolle sein würde oder sein könnte", sagt er. "Wir verbrachten mehrere quälende Monate damit, diese Sache zu erfinden – wir versuchten, etwas zu tun, was wir noch nie zuvor getan hatten, und stellten fest, dass wir keine Erfahrung damit hatten."

Er stellt sich Forschungsergebnisse vor, die nicht nur mit der Aufforderung "Das sollten die Leute machen!" einhergehen, sondern auch mit leicht zugänglicher Software, die es anderen ermöglicht, mit diesen Werkzeugen zu experimentieren. Aber zum größten Teil, sagt er, betrieben Epidemiologen eben Forschung und nicht Entwicklung: "Wir schreiben Software, die in der Regel ziemlich schlecht ist, aber sie erledigt den Job. Und dann schreiben wir ein Paper, und dann liegt es an jemand anderem – irgendeiner imaginären Person – es in einem breiteren Kontext anwendbar zu machen. Und genau das geschieht dann nie. Wir haben solche Misserfolge im Zusammenhang mit der Pandemie oft gesehen."

Zelner stellt sich das Äquivalent eines nationalen Wettervorhersagezentrums für Infektionskrankheiten vor. "Es ist eine Welt, in der alle Zahlen über COVID-19 an einer zentralen Stelle zusammenlaufen", sagt er. "Dort gibt es ein Modell, das in der Lage ist, diese Informationen kohärent zu vereinen, Vorhersagen zu erstellen, die von ziemlich genauen Darstellungen der jeweiligen Unsicherheiten begleitet werden." Heraus käme dann etwas weitgehend Verständliches und in Handlungen Umwandelbares "in einem ziemlich engen Zeitrahmen".

Zu Beginn der Pandemie gab es diese Infrastruktur noch nicht. Doch in letzter Zeit gibt es Anzeichen für Fortschritte. Marc Lipsitch, Epidemiologe für Infektionskrankheiten in Harvard, ist wissenschaftlicher Leiter des neuen "Center for Forecasting and Outbreak Analytics" der amerikanischen Seuchenschutzbehörde CDC. Es soll die Entscheidungsfindung verbessern und eine koordinierte, kohärente Reaktion auf eine sich entwickelnde Pandemie ermöglichen.

"Wir sind derzeit nicht sehr gut in der Vorhersage von Infektionskrankheiten. Eigentlich sind wir sogar ziemlich schlecht", räumt Lipsitch ein. Aber wir waren früher auch ziemlich schlecht in der Wettervorhersage, als sie in den 50er Jahren begann, merkt er an. "Dann wurden die Technologie, die Methodik, die Messungen und die Berechnungen verbessert. Wenn wir Zeit und wissenschaftliche Anstrengungen investieren, können wir immer besser werden." Die Verbesserung der Prognosen ist Teil der innovativen Vision des Zentrums. Ein weiteres Ziel ist die Durchführung spezifischer Studien zur Beantwortung spezifischer Fragen, die sich während einer Pandemie stellen. Schließlich soll maßgeschneiderte Analysesoftware entstehen, um auf nationaler und lokaler Ebene rechtzeitig reagieren zu können.

Diese Bemühungen stehen im Einklang mit der Idee eines ingenieurwissenschaftlichen Ansatzes – auch wenn Lipsitch es einfach "schnelllebige Gesundheitswissenschaft" nennen würde.

"Gute Wissenschaft ist bescheiden und in der Lage, sich angesichts von Unsicherheiten zu verbessern", sagt er. "Wissenschaftler, die in der Regel über einen längeren Zeitraum – Jahre oder Jahrzehnte – arbeiten, sind an die Idee gewöhnt, unser Bild der Wahrheit zu aktualisieren. Aber in einer Krise muss die Aktualisierung schnell erfolgen. "Außerhalb von Pandemien sind Wissenschaftler nicht daran gewöhnt, unser Bild von der Welt jede Woche oder jeden Monat grundlegend zu ändern", sagt er. "Aber gerade bei dieser Pandemie müssen wir das angesichts der Geschwindigkeit neuer Entwicklungen und neuer Informationen tun".

Die Philosophie des neuen Zentrums, so Lipsitch, besteht darin, "die Entscheidungsfindung unter Unsicherheit zu verbessern, indem wir diese Unsicherheit durch bessere Analysen und bessere Daten verringern, aber auch indem wir anerkennen, was nicht bekannt ist, und dies und seine Konsequenzen klar kommunizieren."

Und er merkt an: "Wir werden eine Menge Ingenieure brauchen, damit das funktioniert – und natürlich den technischen Ansatz."

(bsc)