Wie Salzwiesen zur Rettung Venedigs beitragen könnten​

Wissenschaftler sehen die versinkende Stadt als ein Testlabor für Umweltlösungen.​

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Jane da Mosto und Alessandro Gasparotto überblicken die zentrale Lagune von Venedig von einer renaturierten Salzwiese aus.

(Bild: We Are Here Venice)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Catherine Bennett
Inhaltsverzeichnis

Venedigs Fundamente versinken wegen Bodenabsenkungen langsam im Schlamm, auf dem die Stadt gebaut ist. Gleichzeitig steigt der Meeresspiegel, so dass die Stadt im schlimmsten Fall bis 2100 ganz unter Wasser verschwinden könnte.

Der Umweltingenieur Alessandro Gasparotto ist einer der vielen Menschen, die versuchen, das zu verhindern. Er steht auf einem großen Schlammfeld in der Mitte der venezianischen Lagune und schiebt einen hohlen, drei Fuß hohen Metallzylinder – ein sogenanntes Piezometer – in den dicken schwarzen Schlamm.

Mit diesem Instrument lässt sich messen, wie sich das Grundwasser durch das Sediment bewegt, wenn die Gezeiten in der Lagune steigen und fallen. Zu wissen, was unter dem Schlamm passiert, ist wichtig, um zu verstehen, ob – und wie – Vegetation wachsen und diese karge Schlammlandschaft schließlich in einen Salzsumpf verwandeln kann.

Gasparottos Arbeit mit Salzwiesen ist Teil eines Projekts, das die Nichtregierungsorganisation We Are Here Venice (WAHV) leitet und die Europäischen Union (EU) im Rahmen des Forschungsprogramms WaterLANDS finanziert, das Feuchtgebiete in ganz Europa wiederherstellt. Der Ortsverband Venedig hat zwei Millionen Euro für fünf Jahre erhalten, um zu untersuchen, ob künstliche Wattflächen – also Ablagerungen, die beim Ausbaggern der Lagune für Schifffahrtskanäle entstehen – wieder in die Sümpfe zurückverwandelt werden können. Als Zweites soll untersucht werden, ob diese wieder zu einem funktionierenden Teil des Ökosystems der Lagune werden können.

„Die Geschichte der Stadt Venedig ist seit jeher mit der Geschichte der Lagune verwoben“, erklärt Andrea D'Alpaos, Geowissenschaftler an der Universität von Padua. Die Gesundheit Venedigs hängt von der Gesundheit des Lagunensystems ab und umgekehrt.

Diese Beziehung ist nicht nur wirtschaftlicher Natur, wo der Schutz des Ökosystems der Lagune beispielsweise die Fischereierträge steigert, sondern auch infrastruktureller Natur. Die Salzwiesen haben eine puffernde Wirkung auf die Gezeitenströme, dämpfen die Kraft der Wellen und verringern die erodierende Wirkung des Wassers auf die Gebäude Venedigs.

Doch die Salzwiesen sind seit Jahrhunderten rückläufig. Dies ist zum Teil auf die schlechte Bewirtschaftung der Wasserwege zurückzuführen. Das reicht bis in die Zeit um 1500 zurück, als die Venezianer die Flüsse aus der Lagune ableiteten und ihr so die Sedimente entzogen, die auf natürliche Weise von den Strömungen in die Lagune getragen wurden. Der Bau von Wellenbrechern an drei Buchten an der Adria und die Aushebung eines riesigen Schifffahrtskanals in den späten 1900er Jahren führten zu einer weiteren Aushöhlung des Sumpfgebiets.

Während die Stadt von teuren Restaurierungs- und Präventionsmaßnahmen profitiert hat, vor allem vom 6,2 Milliarden Euro teuren MOSE (die italienische Abkürzung für „Experimental Electromechanical Module“), wurden die Sümpfe übersehen. MOSE ist ein kolossales (wie äußerst effektives) System mobiler Seebarrieren, das die Fluten der Adria von der Stadt fernhalten soll.

Der Bau von MOSE begann 2003, doch Verzögerungen, Kostenüberschreitungen und ein Korruptionsskandal verzögerten die Fertigstellung. Es wurde 2020 zum ersten Mal aktiviert und verhinderte erfolgreich eine Überschwemmung. Paradoxerweise schadet ausgerechnet die MOSE-Technologie, die die Stadt eigentlich schützen soll, dem Ökosystem der Lagune.

„Wenn das MOSE-System hochgefahren wird, stoppt es Sturmfluten und verhindert Überschwemmungen in Venedig“, sagt D'Alpaos. „Sturmfluten sind schlecht für Venedig, aber sie sind gut für die Sümpfe. 70 Prozent der Sedimente, die die Sümpfe erreichen, werden bei Sturmfluten angeliefert.“

Diese übermäßig hohen Fluten, so D'Alpaos weiter, treten immer häufiger auf. Das Problem sei, „wenn man die Lagune zu oft oder zu lange schließt, verhindert man, dass Sedimente in die Sümpfe gelangen.“ In den mehr als 20 Jahren, in denen er die Lagune untersucht, seien die Sümpfe in einem alarmierenden Tempo verschwunden: „Die Sümpfe ertrinken. Vor zwei Jahrhunderten gab es in der Lagune von Venedig 180 Quadratkilometer Marschland. Jetzt haben wir nur noch 43 Quadratkilometer.“

Eines der Einsatzgebiete von "We Are Here Venice" befindet sich in einem natürlichen Salzwiesengebiet, das auf einer Seite von einer nierenförmigen Plattform aus Baggergut aus der Lagune umgeben ist. An Stellen, an denen der Schlamm trocken ist, hat sich der Boden in Flecken aufgespalten, die an kleine tektonische Platten erinnern. Sie sind mit knochenweißen Krabbenscheren übersät, die von überfliegenden Möwen saubergeknabbert und fallen gelassen wurden.

Drei orangefarbene Stöcke markieren die Stelle, an der ein Zaun zwischen dem Salzsumpf und der Aufschüttung entfernt werden soll, um den Wasseraustausch und die Bewegung von Sedimenten zu ermöglichen. Dadurch sollen die beiden Ökosysteme "miteinander sprechen" können, sagt Jane da Mosto, Geschäftsführerin und Mitbegründerin von WAHV.

Da Mosto zufolge, die in Gummistiefeln über die Insel stapft und bei jedem Schritt schwarze Schlammklumpen freisetzt, „stellt all dies eine Art Naturkapital dar“. Die Sümpfe speichern nicht nur Kohlenstoff, sondern "sind auch Lebensraum für Fische und eine große Vogelpopulation". Sogar der Meerfenchel, eine essbare Sumpfpflanze, „könnte wie eine Kulturpflanze angebaut werden“.

Sümpfe sind auch effizientere Kohlenstoffsenken als Wälder: Die Kohlenstoff speichernde Sumpfpflanzen, die allmählich unter Sediment begraben werden, wenn die Flut sie überspült, halten den Kohlenstoff so lange wie möglich fest.

Da Mosto sieht die Stadt als eine Art Labor für Umweltlösungen mit breiterer Anwendung. "Venedig ist ein Spiegel für die Welt", sagt sie. „Wenn die Stadt ein Beispiel für alle Probleme der Welt bleibt, wie es jetzt der Fall ist, dann hat es keinen Sinn, sie am Leben zu erhalten. Aber wir sollten in der Lage sein zu zeigen, wie man Aufschüttungen in ökologisch produktive Salzwiesen umwandeln kann und wie man eine auf Massentourismus basierende Wirtschaft in eine Wirtschaft umwandelt, die auf ihrem natürlichen Kapital basiert.“

(jle)