Willkommen in der Plastikwelt!

Kunststoffe haben keinen guten Ruf: Sie gelten als ökologisch fragwürdig und Symbol der Wegwerfgesellschaft. Dabei haben sie sich längst zum Hightech-Werkstoff der Zukunft gewandelt – der sogar einen wichtigen Beitrag zur Nachhaltigkeit leisten kann.

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Lesezeit: 17 Min.
Von
  • Niels Boeing
Inhaltsverzeichnis

Zukunftsprognosen sind immer gut für einen Witz. So wie jener Garten-Smalltalk zu Beginn des Sechziger-Kultfilms „Die Reifeprüfung“, als ein Freund des Gastgebers, McQuire, dem frischgebackenen Highschool-Absolventen einen guten Rat gibt: „Ben, ich möchte dir nur ein Wort sagen...“ „Ja, Sir“ antwortet ein verstörter Dustin Hoffman höflich. „Plastik.“ „Wie meinen Sie das?“ „Plastik hat eine große Zukunft.“ Schon die Hippies haben darüber gelacht.

Heute, fast vierzig Jahre später, zündet der Witz immer noch. Plastik? Das ist die Einkaufstüte aus dem Supermarkt, das Gehäuse des Billighandys, die hässlich klappernde CD-Hülle. Plastik, das steht für Wegwerfökonomie und für Materialien, die die Umwelt belasten. Was Drehbuchautor Buck Henry damals vielleicht nicht ahnte: Sein McQuire hatte Recht. Plastik hat tatsächlich eine große Zukunft – gerade auch da, wo man es nicht unbedingt erwartet.

Einen Vorgeschmack kann man in einer unscheinbaren Büroetage im Industriepark von Bayer in Leverkusen bekommen. In der Mitte des Flures befinden sich zwei mannshohe Stellwände, wie man sie von Messeständen kennt. Eckard Foltin schaltet die kleine Hifi-Anlage ein, die auf dem Fußboden davor steht. Plötzlich erfüllt ein mächtiger, glasklarer Sound den Flur, ohne dass irgendwo Boxentürme zu sehen wären. Foltin, Leiter des Creative Center bei Bayer MaterialScience, lächelt: „Die Stellwände sind die Lautsprecher.“ Wie bitte? Ein schneller Blick dahinter, doch da ist nichts. Nur ein schwarzes Boxenkabel, das von der Rückseite in die Anlage führt, verrät, dass hier alles mit rechten Dingen zugeht.

Die Wand ist „Pursonic“, ein Lautsprechersystem, dass Bayer zusammen mit Siemens und der schwäbischen Firma Puren, die die Technik inzwischen vertreibt, entwickelt hat. Doch anders als bei herkömmlichen Lautsprechern schwingt hier keine von einem Elektromagneten angetriebene Membran, sondern eine Schicht in der Wand, die aus Polyurethan-Schaum besteht – bislang eher als Wärmedämmmaterial bekannt geworden. Die Vibrationen werden von drei Schwingungsgebern ausgelöst, die direkt auf der Rückseite der Schaumschicht aufliegen.

Der Clou: Der Schallkegel, den die Wand abstrahlt, ist dreimal so weit wie der von herkömmlichen Boxen. „Ein normaler Lautsprecher arbeitet wie eine Trompete, erzeugt einen Schalldruck“, sagt Foltin. „Pursonic arbeitet dagegen wie eine akustische Gitarre, bei der eine Fläche zum Schwingen gebracht wird.“ Mit diesem Plastik-Lautsprecher werden deshalb völlig neue Surround-Soundsysteme möglich. Putz, ja selbst eine zwei Zentimeter dicke Marmorverkleidung werden so zum Klingen gebracht. Damit nicht genug: Die Technologie eigne sich besonders für Lautsprecheranlagen in Flughäfen oder Bahnhöfen, so Foltin, weil wegen des anderen Schwingungsverhaltens Durchsagen auch im Hintergrundlärm klar verständlich bleiben.

Pursonic ist ein Beispiel für eine Palette überraschender Anwendungen von Kunststoffen, wie Plastik in der Forschung weniger lax genannt wird. Anders als man vor dreißig Jahren glaubte, sind es jedoch nicht komplexe, neu entdeckte Chemikalien, die neue Möglichkeiten eröffnen. Die Wissenschaftler haben vielmehr gelernt, alten Bekannten wie dem in fünfziger Jahren bei Bayer entwickelten Polyurethan neues Leben einzuhauchen. „Für die Lautsprecherwand mussten wir ein Material finden, das möglichst leicht und steif zugleich ist“, sagt Eckard Foltin. Dass der Schaum zum Lautsprecher wird, liegt an seiner veränderten Schaumstruktur. Sie entsteht, wenn drei Chemikalien in einem ausgeklügelten Mengenverhältnis gemischt werden.

„Ein wichtiger Trend geht dahin, immer höherwertige Kunststoffe aus immer einfacheren und damit billigeren Polymeren zu entwickeln“, sagt Matthias Rehahn, Leiter des Deutschen Kunststoffinstituts in Darmstadt. Polymere nennt man die für die meisten Kunststoffe charakteristischen langen Moleküle, die aus Rohöl, Erdgas oder nachwachsenden organischen Rohstoffen gewonnen werden. In ihnen sind einfache chemische Bausteine aus wenigen Atomen zu langen Ketten aneinandergefügt. Mittels geschickter Chemie lässt sich etwa Polyethylen, den meisten nur als Plastiktüte vom Supermarkt um die Ecke bekannt, in leistungsfähige Werkstoffe verwandeln. „Heute kann man mit speziellen Katalysatoren zum Beispiel Ethylen zu so langen Ketten zusammenfügen, dass sich hieraus Fasern mit der Festigkeit von Kevlar, dem Material in schusssicheren Westen, fertigen lassen“, sagt Rehahn. Aber es sind vor allem zwei weitere Entdeckungen, dank derer Chemiker Plastik heute in einen Hightech-Werkstoff verwandeln: Kunststoffe können elektrisch leitend sein und durch geschickte Wahl von Zusatzstoffen in ihren mechanischen oder optischen Eigenschaften regelrecht „getunet“ werden.

1977 entdeckten die Chemiker Alan Heeger, Alan McDiarmid und Hideki Shirakawa, dass durch bestimmte Polymere sehr wohl Strom hindurchfließen kann. Grund ist eine Art molekularer Dominoeffekt: Die elektronischen Bindungen in den langen Ketten können der Reihe nach „umklappen“, so dass sich überschüssige Elektronen durch das Molekül bewegen – und netto ein Strom fließt. Umgekehrt können auch fehlende Elektronen, so genannte elektronische Löcher, durch die Kette wandern.